Wir haben die mystische Dimension verloren

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Die Dominikanerin Schwester Scholastika Jurt (56) fürchtet den Verlust des Kontemplativen in Kirche und Orden. theo-Autorin Brigitte Schmitz-Kunkel sprach mit ihr über das Geheimnis des Glaubens, über das Heilige und das Alltägliche.

1/2021

Schwester Scholastika, lange wurde nicht so intensiv über höhere Mächte, Wert und Sinn des Lebens nachgedacht wie in der Corona-Pandemie. 

Der Zukunftsforscher Matthias Horx hat am Ende des Jahres eine sehr schöne Kolumne geschrieben: „Im Vertrauen“. Das ist eigentlich die kostbarste Ressource, die wir zurzeit haben. Er beschreibt, dass es so modern war, misstrauisch zu sein. Was jetzt wirklich gefragt ist, ist gegenseitiges Vertrauen. 

Das ja auch auf Höheres verweist, das Gott-Vertrauen sozusagen. 

Der Mensch kann und macht alles, ist Herr und Meister über das Leben – Covid 19 stellt das in Frage. Dieses „ich kann alles kontrollieren“, da gibt es einen riesigen Riss. Da kommt eine neue Dimension in unser Leben hinein. Es ist die große Frage, was oder wer gibt mir Halt, wenn mein Leben zerbrechlich wird? Und haben wir als Kirche eine Antwort darauf? Denn wenn ich ohne Ablenkung in meinen vier Wänden bin und nicht irgendwo Geliebtsein in eine höhere Dimension hinein spüre, die wir Gott nennen, dann wird das Leben schon eine Herausforderung. 

Ist es dem Menschen quasi angeboren, sich nach etwas Höherem, Heiligen zu sehnen? 

Wir sind schon von unserer Konstitution her so sehr Angewiesene, schutzlos und verletzlich. Natürlich können wir Vieles in die Hand nehmen. Aber wir brauchen einen Boden, der uns trägt. Ich habe kürzlich einen Film über einen jungen Mann gesehen, der mehrfach an Krebs erkrankt ist. Erst bei der zweiten Diagnose ließ er den Schmerz zu, zeigte seine Verwundbarkeit. Das finde ich mutiger: Zu sagen ich kann nicht alles selber schaffen in dieser Welt. Wenn wir nicht irgendwann in die Tiefe wachsen, kommt ein Absturz.  

Ist diese Tiefe ein innerer heiliger Raum? 

Die Sehnsucht spannt uns aus in einen immer größeren Raum, eine immer größere Weite, das ist für mich Transzendenz. Das erhebt uns und ist eine ungeheure Kraft, die zeigt, dass das in uns angelegt ist. Auch wenn wir das oft nicht wissen, sehnen wir uns doch nach einer Lebensfülle, die wir, glaube ich, nie auf Erden bekommen. Es gibt ja das große Wort von Augustinus: Mein Herz ist unruhig, bis es Ruhe findet in Gott. Wir sind in einer positiven Unruhe, das Irdische genügt uns nicht. Wenn wir staunen über Wunderbares in der Natur, wenn ich Musik höre oder wenn es schneit – da bricht in mir eine solche Sehnsucht auf! Wir sind auf Größe und Weite angelegt, das sprengt uns. 

Ist das das Heilige?

Es ist vielleicht dieses innere Wissen, da ist mehr. Ich glaube aber, das Göttliche berührt uns oft im puren Alltäglichen. Das zeigt das Weihnachtsgeheimnis. Gott wurde Mensch, damit wir vergöttlicht werden. Heiliger Raum hat für mich aber auch etwas Klares, Lauteres. Im Unbegreiflichen berühren wir Gott.

Im kleinen Alltäglichen das absolut Unfassbare? 

Ich glaube, wir Menschen brauchen Namen oder Bilder von Gott, damit wir uns überhaupt orientieren können. Aber es zieht uns in eine Entgrenzung. Meister Eckhard sagt: Sobald Du ein Bild von Gott hast, lass es wieder los, damit er sich noch einmal und immer wieder zeigen kann. Es ist ein Geheimnis! Im heiligen Raum wird mir etwas geoffenbart, ich darf erkennen, ein schrittweises Öffnen in diese Entgrenzung hinein. Der Theologe Joachim Negel hat ein Gebet formuliert, da sind Vater und Sohn, und um sie herum öffnet sich ein Raum, das ist der Heilige Geist. Darin stehen wir. Das ist so ein schönes Bild. 

Was bedeutet das für uns?

Unser Gottesbild hat so eine Kraft auf unser Leben! Wenn ich an einen Gott glaube, wer ist er für mich? So gestalte ich mein Leben: Hab ich Angst oder nicht, kann ich mich anvertrauen oder nicht? 

Wer aber prägt dieses Bild?

Durch die Krise der Kirche zerbröckelt jetzt vieles, auch das Bild von Gott als Herrscher. Dafür bin ich dankbar. Er ist der Allmächtige, aber wenn ich das buchstabiere, dann ist es das Wehrlose, das Barmherzige, Weibliche, Krippe und Kreuz, ein Geheimnis. Da wird jetzt viel aufgebrochen, und das finde ich gut. Ich glaube, viele haben Angst vor diesem zärtlichen Gott, den Papst Franziskus am Anfang seiner Amtszeit so herausgestellt hat. 

Warum ist das für die Kirche als System, wie wir es kennen, bedrohlich? 

Weil ich dann meine Bedürftigkeit spüre. Kardinal Woelki hätte zugeben können, dass er einen Freund, der sich schuldig gemacht hat, schützen wollte. Er hat sich aber auf die Macht als Kardinal zurückgezogen. Dann muss ich das Persönliche völlig zudecken und lasse mich nicht auf die menschliche Ebene ein. Aber das würde der Kirche helfen, weil dieses Ringen herüberkommt! Das ist für mich heiliger Raum, zuzugeben, das war mein Grund, und ich habe einen schlimmen Fehler gemacht. Dann würden wir barmherziger. 

Die größtmögliche Freiheit besteht darin, Verantwortung zu tragen? 

Und nicht nur die Freiheit mir selbst gegenüber. Ob Kirche oder Klimawandel, es geht jetzt in allen Themen um die Menschheit; mehr noch: um das Leben. Da dürfen wir niemanden mehr ausgrenzen und niemanden mehr kleinhalten. Wie finden wir einen Geschmack von der Freiheit Gottes, das ist auch Geheimnis. „Zur Freiheit habe ich euch befreit“, heißt es im Galater-Brief. Das ist kein laissez faire, es nimmt einen im Gegenteil voll und ganz in die Verantwortung. Man kann eben nicht sagen, es ist Gott, der alles macht.  

Es ist eine selbstbestimmte Haltung.

Mein Lebenswort ist: „In Christus seid Ihr eine neue Schöpfung“. Wir lernen das so mühsam. Uns fehlt oft der Mut für ein Leben, das wir erkennen können, wenn wir wirklich aus dem Evangelium leben. Das ist kein bequemes Leben, aber spannend in der Gemeinsamkeit! Da geht auch mal was schief. Davor hat die Kirchenleitung aber auch Angst, dass der Mensch frei denkt. Und frei wagt und nicht schön in den Bänken verharrt …

Die Kirche hat sich zunehmend auf die Caritas zurückgezogen, auf Sozialarbeit und Mildtätigkeit, auf Wohlfühlformen aller Art und spart das Heilige, das Mysterium fast verschämt aus. Vergibt sie mit dem spirituellen „Alleinstellungsmerkmal“ nicht auch ihre Daseinsberechtigung? 

Ich finde, daran krankt die Kirche! Wir haben die mystische Dimension verloren. Diese Stille aushalten, vor diesem Gott zu sein wie auch immer, ihn zuzulassen in der Stille, auch wenn keine Antworten kommen. Mich seinem Wort auszusetzen in dieser passiven Haltung, die aber höchste Aktivität ist. Das ist für mich das Heilige. Auf der Suche bleiben nach ihm. Der christliche Gott ist ein Du, wie gehen wir damit um? Das ist für mich ein Schlüssel, da wird der Mensch frei! Dann entdeckt er vielleicht im Evangelium eine Lebenshaltung, die ist nicht mehr konform mit dem, wie Glauben gedacht ist, wie Kirche gedacht ist.

Viele Menschen sind mit ihrer spirituellen Sehnsucht längst jenseits von Gottesdiensten und Gemeinden in Klöstern und leeren Kirchen auf dem Weg. 

Viele suchen auch diese wunderschönen uralten Gesänge wie etwa bei der Jerusalem-Gemeinschaft in Köln – da kommt etwas von der Schönheit Gottes zum Tragen. Da muss ich nicht jedes Wort verstehen, aber ich werde hineingenommen in diesen heiligen Raum, die Anwesenheit Gottes ist spürbar. Das macht etwas mit mir. Ich gehe anders heraus als aus einem Gottesdienst, wo alles heruntergeleiert wird. Das ist doch im Wortsinn himmlisch! Oder göttlich! Das bricht in solchen Momenten in die Wirklichkeit ein. 

Wie in der Liturgie die Wandlung, das „Geheimnis des Glaubens“?

Ich kann das nur glauben, das sprengt unseren Verstand. Das ist verrückt, verrückter Glaube! Und dann ist es Gnade, finde ich. Der Glaube wird nackt und total realistisch, wenn es in keiner Weise mehr Beweise gibt. Aber wir wollen diesen nackten Glauben nicht, wo ich nur noch glauben kann. Das überfordert uns. 

Das Christentum stellt ja in seiner Abstraktion eine intellektuelle Heraus-
forderung dar.

Wir suchen immer gute Gefühle. Haben wir den Mut zum Heiligen, oder reduzieren wir Kirche auf Diakonie? Für mich ist es das Bild vom Kreuz: In unserer Kirche ist die Vertikale verloren gegangen. Wir sind auf dieser horizontalen Ebene, aber die Erlösung ist der Kreuzpunkt. Wenn mich ein Gottesdienst nicht verändert, wenn mich ein Gebet nicht verändert, ist das nicht christlich. Karl Rahner hat das mal wunderbar ausgedrückt:  Es geht darum, dass wir nicht begreifen, sondern uns ergreifen lassen. Der Religionsphilosoph Jörg Splett hat das hier mal in einem Vortrag „angenommenes Hingegebensein“ genannt. Da geschieht was mit uns! Dann werden wir Freigeister. 

 

Sie haben Ihr Kloster für Gäste geöffnet, laden sie auch zu den Stundengebeten in den Schwesternchor ein? Wo bleibt bei Ihrem großen Angebot für Körper, Leib und Seele das Geheimnis?

Wenn wir Leute in den Chor einladen, ist das ganz bewusst, es ist ein gemeinsames Gebet. Wenn einer nur reinkommt und wieder geht, kann ich nicht beurteilen, was er mitnimmt.  Wir wollen niemanden belehren. Natürlich sind uns die Gäste am liebsten, die mit uns auch einen inneren Weg gehen. Viele schätzen die Stille, können aber damit nicht umgehen; für immer mehr ist sogar Gebet ein Fremdwort. Wenn wir Schwestern Stille und Schweigen aushalten können, kommt das aber auch bei den Gästen an. Kontemplation wird ein wichtiges und brennendes Thema für die Kirche und für die Orden, die ja auch sterben. Das ist für mich diese mystische Dimension, das kontemplative Element. Wenn das verloren geht, dann stirbt Christentum. Rahner hat ja diesen berühmten Satz gesagt: Der Christ wird Mystiker sein, oder er wird nicht mehr sein.  //

Sr. M. Scholastika Jurt OP (56) ist
Generalpriorin der Kongregation der
Arenberger Dominikanerinnen.