War dieser
Mann
im
Himmel
?

von

Der Harvard-Professor und Neurochirurg Eben Alexander fiel vor einigen Jahren anlässlich einer Hirnhautentzündung ins Koma. Nach sieben Tagen wachte er auf, verarbeitete später seine Nahtoderfahrung in dem Buch: Proof of Heaven. Darin schildert er seinen Übertritt ins Jenseits und ist seither sicher: Es gibt ein Leben nach dem Tod. 2017 legte er nach mit dem Bestseller: Die Vermessung der Ewigkeit. Was ist dran an seinen Schilderungen?

1/2020

Es ist der 10. November 2008, als mitten in der Nacht ein höllischer Schmerz die Wirbelsäule des 54-jährigen Neurochirurgen durchzuckt. Wenig später lässt seine Frau den mittlerweile Bewusstlosen ins Krankenhaus einliefern, in dem er selbst oft operierte. Die Diagnose: eine höchst gefährliche und zudem sehr seltene bakterielle Meningitis greift das Gehirn an und zerstört dessen Strukturen. Sechs Tage liegt er im Koma, dabei ist sein Gehirn ohne Funktion. “Shut down“ nennt er es in seinem Buch. Seine zutiefst verstörte Familie, die an seinem Bett sitzt und ihm die Hand hält, kriegt von den Ärzten zu hören, dass seine Überlebenschance als „Rundum-Pflegefall“ mit einem geschädigten Gehirn bei etwa drei Prozent liegt.

Am siebten Tag, als die Ärzte gerade beschließen, die Zufuhr von Antibiotika einzustellen, die die Bakterien in seinem Hirn bekämpfen, kehrt der Patient zurück ins Leben, langsam zwar, aber ohne bleibende Schäden. Ein medizinisches Wunder.

Alexander, dessen Lebenslauf sich liest wie das „Who is Who“ der renommiertesten amerikanischen Universitäten, Vortragshäuser und Publikationsreihen, behauptet, im Jenseits gewesen zu sein. Sein Bewusstsein habe während seines Komas eine weite Reise unternommen, die der Mediziner einen Himmelsbeweis nennt. Er sei in einer Welt gelandet, die von Licht durchflutet war und einer universalen göttlichen Liebe. Musik sei erklungen, die wunderbarste, die er je gehört habe, und ein Engel habe ihn begleitet. „Ich flog über Bäume und Felder, Flüsse und Wasserfälle“. Später habe er auch Gott getroffen: „Ein Dunst aus überfließender Liebe und Licht.“ 

Bis zu diesem Erlebnis sei er ein typischer „O- und W-Christ“ gewesen, der im Wesentlichen zu Ostern und zu Weihnachten die Kirche heimsuchte, denn als Neurochirurg sei er der strengen Ratio verpflichtet, zweifelte religiöse Offenbarungen an. Die Botschaft der „bedingungslosen Liebe“, die er während seiner Nahtoderfahrung erfahren habe, habe alles verändert, stellt er in seinem Buch klar. Wie fast alle Naturwissenschaftler war er vor seiner Erkrankung der Meinung gewesen, Bewusstsein werde durch zerebrale Vorgänge im Gehirn erzeugt. Ohne Körper kein Bewusstsein.

Etliche Patienten hatten früher dem Hirnexperten von ähnlichen Nahtoderfahrungen berichtet, die er allesamt als Fantasien abgetan hatte. Weil sich das bei Patienten, nicht nur in den USA, herumsprach, schwiegen fortan viele Betroffenen über derartige Erlebnisse, aus Angst, in der Psychiatrie zu landen.

Auch deswegen habe er das Buch geschrieben, um den Menschen Mut zu machen, ihre Geschichte zu erzählen, so Alexander. Vier Millionen Patienten allein in Deutschland können auf eine Nahtoderfahrung zurückblicken, eine davon ist die Physiotherapeutin Sabine Mehne aus Darmstadt: Gemeinsam mit dem holländischen Kardiologen Pim van Lommel hat sie vor Jahren das „Netzwerk-Nahtoderfahrung.org“ gegründet. 

Eben Alexander kennt inzwischen hunderte Geschichten, ist ein gerngesehener Gast in Talkshows und auf Rednerbühnen.

„Meine Erfahrungen haben mir gezeigt, dass der Tod des Körpers und des Hirns nicht das Ende des Bewußtseins sind, dass der Mensch Erfahrungen macht über den Tod hinaus.“

Alexander beruft sich auf den Physiker Werner Heisenberg: Der vertrete in der Quantenphysik die Theorie, dass auf einer Ebene unterhalb der Atome alles mit allem verbunden sei.

„Ich spüre“, ergänzt Alexander, „dass alle Verluste, die wir hier auf Erden erdulden müssen, in Wahrheit Varianten eines zentralen Verlustes sind; dem Verlust des Himmels.“

Interview mit Eben Alexander

Der Tod solle gefeiert werden als Teil jenes großen Abenteuers, das wir alle teilen.

Dr. Alexander – mit ein bisschen Abstand: Was ist von Ihrem Nahtoderlebnis besonders haften geblieben? Gibt es ein Gefühl, eine Erfahrung, die noch in Ihnen nachklingt?

Dieses Erlebnis hat alles in meinem Leben verändert, und ich erinnere mich lebhaft an die Details – so, als wäre es erst gestern passiert. Die wichtigste Botschaft, die ich damals empfing, war die Bestätigung, dass es einen allmächtigen Schöpfer gibt. Er hört nicht auf, alle Prozesse mitzugestalten: in unserem Leben, im Universum, im Jenseits. Und: Wir werden bedingungslos geliebt. Die Veröffentlichung von Blick in die Ewigkeit war ein wichtiger Teil meiner Reise, weil sie es mir ermöglicht hat, mich überall auf der Welt mit Menschen auszutauschen. Wo ich auch hinkam: Die Menschen teilten mir ihre eigenen Erfahrungen mit dem Tod mit. Diese Erzählungen halfen mir immer mehr zu verstehen, was mit mir passiert war, als mein Körper im Koma lag. Ein echtes Privileg: Ich konnte Story für Story mit meinen Forschungen verbinden und herausfinden, wie alles zusammenpasste.

Abgesehen davon, dass Sie ein erfolgreicher Bestsellerautor geworden sind: Inwiefern hat sich Ihr Dasein nach Ihrer Wiedergeburt verändert? Leben Sie anders, bewusster, befreiter, mehr dem Wesentlichen zugetan? 

Die größte Veränderung ist nicht sichtbar. Ich verstehe jetzt, dass jeder von uns ein immer währendes spirituelles Wesen ist, das zeitweise in einen physischen Körper inkarniert. Wir alle sind durch ein riesiges Netz eines sich immer stärker entfaltenden Bewusstseins miteinander verbunden. Das ist eine radikale Veränderung meiner Sichtweise. Vor dem Koma dachte ich, wir seien voneinander abgetrennte Wesen, die – jeder für sich – lediglich von der Geburt bis zum Tode existieren. Wenn du den Tod nicht fürchtest, ändert sich deine Perspektive. Selbst wenn deine Alltagsroutine immer noch dieselbe ist – aufwachen, duschen, zur Arbeit gehen – ist doch alles ganz anders. Rein äußerlich betrachtet ist offensichtlich, dass ich jetzt hingebungsvoll meditiere. Meditation hat mich vor meinem Nahtoderlebnis auch schon interessiert – aus einer akademischen Warte heraus. Denn viele Studien zeigen, dass Meditierende gesundheitlich profitieren. Nun meditiere ich selbst jeden Tag und bin fasziniert davon, wie stark unterschiedliche Umgebungen oder Geräusche die Praxis bereichern können.

Haben sich die Beziehungen zu Ihren Freunden und Familienangehörigen seit 2008 nennenswert verändert?

Ja, ich bin viel intuitiver, empathischer und engagierter geworden in Bezug auf die Einheit und Gemeinschaft, in der wir alle durch das gemeinsame Bewusstsein vereint sind. Es ist ein wunderschönes Geschenk, dieses Gewahrwerden einer „Seelenschule“, in der wir alle als Schüler und Lehrer gleichermaßen dienen. Jeder von uns arbeitet mit an diesem Lernen und Wachsen, um das es in unserer Existenz geht. Es ist mir klar geworden, dass auch die Nöte und Schwierigkeiten im Leben – insbesondere Krankheiten und Verletzungen – Geschenke sind, die uns die Möglichkeit zu Wachstum und Erkenntnis bieten. Wir können die grenzenlose Heilkraft von bedingungsloser Liebe innerhalb unserer Seelengruppen weitergeben, indem wir unserem Schöpfer als Kanäle für diese Liebe dienen. Indem wir uns selbst für Liebe, Mitgefühl, Vergebung und Akzeptanz entscheiden. Wir alle wirken mit an jener spirituellen Evolution, die von Theilhard de Chardin diskutiert wurde.

Was können wir Ihrer Meinung nach tun, um die oftmals limitierte Perspektive, aus der heraus wir unser Leben und Sterben betrachten, zu erweitern?

Unsere bewusste Achtsamkeit ist die direkte Verbindung zum Göttlichen – und zum inneren Kern jeglicher Existenz. Das Gehirn, die physische Substanz in unserem Kopf, schafft nicht wirklich Bewusstheit. Tatsächlich ist es eher wie ein Ventil oder Filter, der den ursprünglichen Ozean der Bewusstheit auf ein kleines Rinnsal reduziert. Wie durch einen Schleier hindurch sehen wir nur das offensichtliche Hier und Jetzt, nehmen wir nur sehr eingeschränkte Bewusstseinszustände wahr. Doch in unserem limitierten physischen Dasein realisieren wir Menschen allmählich, dass die tief greifende Erkundung unseres Bewusstseins das eigentliche Mittel ist, um das allumfassende Universum gründlich und neu kennenzulernen. Wir müssen uns klarmachen, dass Liebe und Mitgefühl die wesentlichen Stoffe unseres spirituellen Reichs sind. Und dass wir alle etwas von diesem Reichtum abzapfen können, indem wir meditieren oder zentriert beten.

Ihr neues Buch, Vermessung der Ewigkeit, nimmt uns mit auf eine faszinierende Reise in die Welt der Spiritualität, Wissenschaft und Philosophie. Gibt es Erkenntnisse, Parallelitäten oder Gegensätze aus den verschiedenen Disziplinen, die Sie bei der Recherche und Auswertung überrascht haben?

Das Überraschendste für Leute, die beginnen, sich mit dieser Materie näher zu beschäftigen – und in diese Kategorie fiel ich, als ich aus dem Koma erwachte –, ist, dass es da einen großen weißen Fleck in der modernen Neurowissenschaft gibt, wenn es um die Beziehung zwischen Gehirn und Bewusstsein geht. Die Menschen haben immer mit dem gerungen, was David Chalmers das „Jahr-2000-Problem“ nannte. Diese großen Millennium-Fragen unseres Bewusstseins klingen simpel: Wie steht unser selbstbewusstes, schöpferisches, menschliches Ich in Beziehung zu unserem Gehirn? Wie kann diese drei Pfund schwere, gallertartige Masse in unseren Schädeln zu etwas so Profundem und Komplexem führen wie zu echtem Bewusstsein? Im viktorianischen Zeitalter haben ein paar Wissenschaftler zu diesem Thema geforscht. Sie haben mit Theorien herumgespielt und überlegt, wie sie jemanden mittels Elektrizität aus dem Koma wachrütteln und ins Leben zurückholen könnten. Nun, Frankensteins Monster ist nicht real, und wir wissen, dass Bewusstsein eben mehr ist als ein Gehirn plus elektrische Impulse. Doch es fehlt uns ein wichtiges Beweisstück. Die Hirnforschung hat das bis jetzt mehr oder weniger so festgehalten: »Gehirn + X? = Bewusstsein«. Und sich dann mit der Erforschung anderer Dinge beschäftigt.

Andere Disziplinen haben da eher Fortschritte gemacht. Sie sind sich auch nicht immer einig, aber es gibt gemeinsame Elemente und Parallelitäten quer durch verschiedene religiöse, spirituelle, wissenschaftliche und philosophische Ansätze hindurch. Es gibt so viel zu lernen an diesen äußerst fruchtbaren Schnittstellen zwischen Religion und Wissenschaft! Auch Einstein, der in vielerlei Hinsicht der Vater der großen wissenschaftlichen Erkenntnisse des letzten Jahrhunderts war, sah, dass diese Überlappungen zu „profunden Hinweisen“ und sogar zu ”strahlender Schönheit“ führten. Je mehr wir über diese Schnittmenge lernen, je mehr passende Puzzleteile wir finden, desto eher können wir das große Ganze enthüllen.

Was nehmen Sie aus den zahlreichen Fallbeispielen und Leserbriefen anderer Menschen mit Nahtoderfahrung mit?

Da sind mir viele Geschichten nahegegangen. Einige, weil sie auf fast unheimliche Weise meiner ähneln. Andere, weil sie einzigartig sind, und wieder andere, weil sie so kraftvoll sind, dass man sie unmöglich vergessen kann. Die Ähnlichkeiten dieser Berichte sind deutlich beeindruckender als ihre Unterschiede. Viele Beispiele, die Sie im Buch lesen, habe ich in Zusammenhang mit Ausführungen von Wissenschaftlern gestellt, von Theologen, Intellektuellen oder spirituellen Experten. Zahllose Menschen haben mir ihre „unmöglichen“ Geschichten anvertraut. Oft passiert es, dass jemand nach einer Lesung zu mir kommt und leise sagt: „Ich habe das noch nie jemandem erzählt, aber …“ Die Leute haben Angst, dass Familie oder Freunde ihnen nicht glauben könnten oder denken, sie hätten sich alles nur ausgedacht. Wenn sie entdecken, dass seriöse wissenschaftliche Forschung über nicht-lokales Bewusstsein betrieben wird, verändert das ihr Leben. So, wie es meines verändert hat.

Sehen Sie Ihrem eigenen Tod mit Spannung entgegen? Freuen Sie sich sogar auf ihn – und können Ihre Leser dies auch tun?

Ich habe gelernt, jeden Moment des Lebens so zu schätzen und anzuerkennen, wie er geschieht. Beim Lesen vieler Arbeiten von spirituellen Führern aus aller Welt habe ich festgestellt, dass alles stark auf diesen Punkt hinausläuft: in der Gegenwart zu leben. Wir dürfen nicht zulassen, dass wir von Ängsten in Beschlag genommen werden – ob es nun Ängste aus der Vergangenheit sind oder Sorgen um die Zukunft. Wir alle sind nicht grundlos hier. In unseren Körpern spüren wir den Schmerz und die Freude über alle Aspekte des Daseins. Diese Emotionen versorgen uns mit der Kraft, die wir brauchen, um die großen Lektionen des Lebens zu lernen – und zu lehren. Der Tod ist ein natürlicher Übergang, in vielerlei Hinsicht ähnelt er der Geburt. Er bedeutet nicht das Ende des Bewusstseins; er ist vielmehr die Befreiung des Bewusstseins aus dem Gefängnis unseres Gehirns. Die starke Verbundenheit mit unseren Seelengruppen endet nicht mit dem Tod unseres physischen Körpers. Der Tod sollte gefeiert werden – als Teil des großen Abenteuers, das wir alle teilen. Und dieses Abenteuer ist die fortwährende Entwicklungsgeschichte eines allumfassenden Bewusstseins.  //

Das Interview führte Katja Volkmer