Heiliger Flügelschlag

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Wie Kanada-Gänse die Fantasie beflügeln, was sie mit Franz von Assisi zu tun haben, und warum das Netz der Welt Ungeahntes ermöglichte und sie dennoch zu einem trostloseren Ort machte.

2/2020

Foto: Gary Bending / unsplash

Mit jedem Frühling zieht es wieder über die Teiche der Stadtparks: Wassergefieder mit großem Gefolge. Hinter Enten, Gänsen und Schwänen schaukeln, schön der Reihe nach, putzige Küken – ein nie enden wollender Schicksalsstrom, der die Gemüter der Menschen erhellt – ausgerechnet er soll nun zur Gefahr für die Umwelt werden. In Nordrhein-Westfalen, so berichten Onlineportale, sollen vor allem Gänse Probleme in Parks und Badeseen bereiten. Ganze Kolonnen von Kanadagänsen watscheln mit ihren Jungen über die Wiesen, betteln um Futter und hinterlassen jede Menge Kot, so die Meldungen.

Was für eine traurige Nachricht. Ausgerechnet die Kanada-Gans, die Idee von einer Gans schlechthin, soll sich schneller ausbreiten als ein Virus. Diese souveräne Graugans, die nichts zu tun hat mit den armen Verwandten in Polen, die erst gemästet und im Herbst zu Ehren des Heiligen Martin in deutschen Backöfen enden.

Was ist es für ein erhebender Klang, wenn Kanada-Gänse aus heiterem Himmel über die Dächer der Stadt hinwegziehen. Manchmal geschieht es in den frühen Morgenstunden, dass ich ihr aus der Ferne heranrauschendes Gezeter höre, das lauter und lauter wird, sich aufbauscht zum Getöse, um langsam wieder abzuebben – bis eines Augenblicks der Gänsegesang verklungen ist – diese Sehnsuchtsmelodie, die Freiheit, Weite und Wildnis verheißt. Erreiche ich schnell genug das Fenster, dann sehe ich sie, wie sie mit ihren schwarzen Flügeln und Schnäbeln in einer perfekten V-Formation den Himmel durchschneiden.

Und jetzt, wo die Meldung von der offensichtlich grenzenlosen Reproduktionsfreude der Kanada-Gänse meinen Vormittag leise verdunkelt, jetzt fällt mir auf, dass ich ihren trompetenden Ruf am Himmel seit Ewigkeiten nicht gehört habe. Es drängt mich ins Internet, in „die Erfindung von Schlaflosen für Schlaflose“ (John Burnside), um dort irgend etwas über ihren Verbleib herauszufinden. Ich stoße auf die Werbung der Outdoor-Firma „Canada Goose“, die mit dem Gänse-Mythos Kasse macht, einfach so, ohne die Tiere gefragt zu haben. Eine etwas absichtsfreiere, poetischere Meldung, wie etwa: „Kanada-Gänse mit ihren lang vorgereckten Hälsen in neuer Route über den Nordatlantik segelnd gesichtet, ganz nah bei den Sternen“, eine solche Meldung finde ich nicht.

Stattdessen räumt Wikipedia mit meinen romantischen Vorstellungen auf: „Die Kanada-Gans ist eine Vogelart aus der Familie der Entenvögel und gilt als die weltweit am meisten vorkommende Gans, ihr ursprüngliches Verbreitungsgebiet ist Nordamerika. In Europa wurde die Kanada-Gans zum Teil gezielt angesiedelt“, dieser schulmeisterliche Eintrag bettet meinen Wissensdrang augenblicklich zur Ruhe.

Es sind die Billionen im Internet herumwabernden Daten und Fakten, die die Neugier antriggern und sie gleichzeitig einschläfern, diese sogenannten Informationen, die nichts zu tun haben mit echtem Wissen, die sich per Klick preisgeben und damit entwerten. Wie jeder Überfluss schaffen sie Überdruss, früher oder später.

Manchmal träume ich mich zurück in die Hallen der ehrfurchtgebietenden Universitätsbibliothek, die ich vor Jahrzehnten durchstreifte mit einem Notizblock in der Hand, den Kopf voll drängender Fragen, die mir meine Studienfächer auferlegten, und im Herzen die freudige Erregung, wenn endlich im richtigen Stockwerk, in der richtigen Abteilung, im richtigen Fach und dann im richtigen Buch eine Erklärung mein Wissensverlagen stillte.

In dem womöglich trügerischen Bewusstsein, wieder ein bisschen klüger geworden zu sein, verließ ich den Hort der Weisheit ein paar Millimeter über dem Boden schwebend. 

Dieses Gefühl ist verloren, hinweggefegt vom Geist der Zeit. Wo in Windeseile jede Information, jede Ware und jede Nachricht an jedem Ort verfügbar wird in ihrer ganzen, die Neugier einschläfernden Banalität, will kein Staunen mehr aufkommen und keine Vorfreude, keine Spannung und keine Magie. Stattdessen ein sich ins Zwanghafte steigernde Nachschlagebedürfnis, das den Menschen ruhelos an die Tasten des sogenannten Endgeräts kettet, ohne ihn je zufriedenstellen zu können – täglich zu beobachten auf den Straßen, Bahnhöfen, Flughäfen und in den Restaurants dieser Welt.

Welch erhabenes Gefühl war es einmal für Reisende, wenn sie, nach vielen Mühen endlich in fremden Ländern angekommen, vor den erträumten Sehenswürdigkeiten standen, als noch nicht jedes Ferienhotel mit Google-Earth herangezoomt, die Bewertungsportale gecheckt und mit der virtuellen Kamera die Sehenswürdigkeiten umflogen wurden.

Alles Geschichte! 

Sicher, das Netz hat gigantische Möglichkeiten eröffnet, aber es hat auch Türen geschlossen, die in Vorstellungskraft und Kreativität mündeten.

Ich weiß, dass Menschen unter 30 gar nicht wissen, wovon ich rede, jene vor dem prädigitalen Zeitalter Geborenen wissen es vielleicht. Und seit wann ist Nostalgie per se etwas Schlechtes? Bei einer wohlwollenden Rückschau blicken Nostalgiker optimistisch in die Zukunft, und es klärt sich leichter für sie, was wichtig ist in den Zeiten, die kommen.

Damals, in der Bibliothek, las ich einmal zufällig etwas über die „Vogelpredigt“ des Heiligen Franziskus, keine Ahnung, warum ich daran hängenblieb und warum ich das bis heute behalten habe. Wahrscheinlich, weil es mich überwältigt hat. 

Um was es in dieser Predigt ging, weiß ich nicht mehr. Aber Wikipedia weiß es für mich: Dort lese ich unter dem Stichwort „Vogelpredigt Franz von Assisi“: „Meine Brüder Vögelein“, sprach der Heilige zum gefiederten Volk: „Gar sehr müsst ihr euren Schöpfer loben, der euch mit Federn bekleidet und die Flügel zum Fliegen gegeben hat, klare Luft wies er euch zu und regiert euch, ohne dass ihr euch zu sorgen braucht.“ Und da fingen die Vögel zu jubeln an, reckten die Hälse, breiteten die Flügel aus und öffneten die Schnäbel. Er selbst schritt mitten durch sie hin und berührte sie mit seinem Gewande.

Waren es diese Worte, die mich damals so bewegt haben, frage ich mich. Und ob wohl auch Kanada-Gänse dem Heiligen Franz zujubelten, grüble ich weiter und weiß auf einmal beinahe erleichtert, dass Wikipedia mir diese Fragen nicht beantworten kann. Da sind sie noch: zwei kleine, ungelöste Rätsel.

Was bleibt, ist die Fantasie, die mir tröstend einflüstert, dass die Meldung über die zu rasche Vermehrung der Kanada-Gänse in den Parks bloß die maßlose Übertreibung eines schreibenden Online-Öko-Redakteurs ist. Dass die Kanada-Gans in Wahrheit ein dunkles, von Wikipedia nie zu entschlüsselndes Geheimnis in sich trägt, dass sie jedes Jahr aufs Neue mitnimmt auf ihre Reise, die sie wer-weiß-wohin, auf jeden Fall über die Weite des Meeres nach Hause bringt.  //