von Sven Schlebes
Vor einem halben Jahr verstarb meine Tante. Als ich ihr Zimmer verließ, stellte sie mir eine einfache, letzte Frage: „Sven. Was jetzt?“ Mit großen Augen schaute sie mich an. Um Antworten war ich nie verlegen. Jetzt fehlten sie mir. Ich zuckte mit den Schultern und drehte mich um.
Wäre ich ein Atheist, hätte mein Geist Jubelgesänge angestimmt: „Seht ihr: Es gibt ihn nicht. Euren Gott.“ Wäre ich ein Gottloser, hätte mein Herz gesungen: „Endlich amtlich: Er ist weg. Kann ich machen, was ich will.“ Doch ich bin nun mal ein Gottsucher. Immer in der der Hoffnung, dass die Geschichten über ihn wenigstens einen Funken Wahrheit beinhalten.
Eine Woche später traf ich einen Mönch: „Meine Tante hat mich gefragt, was nach dem Leben kommt. Antworten habe ich keine. Hast du sie?“ Ich hatte Glück. Der Mönch war ehrlich. „Wissen tue ich nichts. Hoffen tue ich vieles. Ahnen tue ich manchmal einiges. Was war und sein wird, weiß ich nicht.“ Dann schwieg er. Heilen können wir beide nicht. Kriege und Seuchen verhindern auch nicht. Über Wasser gehen: Fehlanzeige. Berge versetzen: Vergiss es. „Fehlt uns das oft beschworene Geschenk des Glaubens?“, fragte ich zurück. Schweigen war die Antwort. Wie sooft in diesen Tagen. Wenn es wirklich ans Eingemachte geht, wird es still, dunkel und einsam mit anderen Menschen. Aber eben auch mit dem, was wir Gott nennen. Das Gefühl, von Gott verlassen zu sein, ist so alt wie die Menschheit. Im Alten Testament beklagt das widerspenstige Volk Israel die Missgunst und den Rückzug Gottes. In den Psalmen finden sich Wehklagen, vom Buch Hiob ganz zu schweigen. Wobei Hiob niemals an der Existenz seines Gottes zweifelt. Es sind die Anderen, die ihm sein Unglück vorhalten und versuchen, seine Gottesbeziehung auszureden.
Einst war das Paradies, dann gab es uns Menschen. Und Gott war irgendwo. Sonst hätte wohl kaum der Apfel seinen Weg zu uns gefunden. Danach wurde es nicht besser. In den sogenannten postparadiesischen Zeiten war es nichts Ungewöhnliches, dass Götter reisen konnten, sich paarten, miteinander im Krieg lagen, Opferspeisen annahmen und ihre Heiligtümer bewohnten. Oder eben sich aus diesen zurückzogen. Auch der Gott der Israeliten war in einer Wolke anwesend, einem brennenden Dornbusch. Oder eben auch nicht. Dann war das Volk in der Wüste allein. Mit sich. Mit Mose. Und der Bundeslade. Immerhin.
Die wohl schwärzeste Gottesferne erlebte Jesus Christus am Kreuz, als er seinem Vater mit seinem letzten Atemzug die sieben letzten Worte entgegenstöhnte: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Dann verstarb er, und der Himmel verdunkelte sich. Gott wurde Fleisch. Und ließ sich selbst im Stich, um alles und alle anderen wiederzufinden.
Die Frage nach dem „Warum“ und „Gott, wo bist du?“ hat uns Menschen nie losgelassen. In persönlichen Schicksalsschlägen, am Totenbett, in Kriegen und Seuchen, in Todeslagern. Während die Theodizee-Frage sich mit der Gerechtigkeit eines liebenden Gottes seit der Kreuzigung im Kreis dreht, sinkt das Gefühl des „deus absconditus“ (ein sich verbergender Gott) tiefer. Es lässt den Geist beiseite mit allen seinen Fragen und dringt direkt ins Herz: „Ist da wer?“
Es soll der Legende nach die tiefe Nacht der Seele sein, in die wir Suchenden fallen. Verzweiflung. Einsamkeit. Das Nichts. Alles, worauf wir in unserem Leben gesetzt haben, die ganzen Geschichten. Wertlos. Es soll der Moment sein, in dem alles aufgeht. Liebhaber östlicher Philosophien und Mystikereien mögen lächeln. Das Ende als Anfang.
Stunde-Null-Liebhabern stand ich schon immer kritisch gegenüber. Es waren meistens Menschen, die mit einer immer komplexer werdenden Welt persönlich nicht mehr zurechtkamen und als einzigen Ausweg den Zusammenbruch der Menschenwelt ersannen. Durch Kriege, Krisen oder Seuchen: „Dann können wir endlich wieder von Neuem beginnen.“
Das Nichts als Erlösung von allem. Vor allem von sich selbst und seinem Netz aus Gedanken, Verstrickungen und nicht enden wollenden Spielen. Ruhe. Ein Leben lang habe ich diese Sehnsuchtssätze aus verschiedenen Richtungen und aus verschiedenen Generationen vernommen. Sie hatten nichts Strahlendes. Sie waren durchtränkt von Mattigkeit, Depression und schwarzem Zynismus: „Möge es enden.“
Bevor der ehrlich schweigende Mönch mir die Hand zum Abschied gab, schmunzelte er mir entgegen: „Die Juden betrachten die Abwesenheit Gottes spätestens seit Isaak Lurias als Gnade. Der TzimTzum Gottes, so heißt es, ermöglicht erst, dass wir sind.“
Isaak Luria war einer der bedeutendsten Lehrer der sogenannten mystischen Schule des Judentums, der Kabbala. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts entwickelte er mit seinen Schülern die Idee von der freiwilligen Selbstkontraktion Gottes aus seiner eigenen Mitte heraus. Gott war alles. Und indem Gott ging, schuf er einen Raum für das Nichts. Und mit ihm die Schöpfung in allen Stufen und Facetten. Erst seine eigene Selbsteinschränkung machte die Welt, machte uns Menschen möglich. Und in dieser Welt kann er nicht als „er selbst“ in seiner Vollkommenheit vorhanden sein, sondern nur in seiner Abwesenheit, seiner eigenen Einschränkung: Nicht als das Nichts, das erst durch seine Einschränkung entstand, sondern als der Contrapunkt zum Allmächtigen – der in seine Schöpfung eingewobene, ohnmächtig Vergängliche. Er ist wie ich. Wie wir. Und doch ganz anders.
Wo ich bin, kann Gott nicht sein. Wo Gott ist, kann ich nicht sein. Zwei Enden eines unendlichen Kreises, eins und doch existenziell ausgeschlossen.
Die einen folgern nun, dass Gott uns braucht, um in dieser Schöpfung sein und wirken zu können. Weil er in uns ist. Die anderen glauben, dass das Allmächtige sich nichts sehnlicher wünscht, als von uns erkannt, anerkannt und geliebt zu werden. Nicht utilitär. Sondern einfach so. Bedingungslos.
Beide Gruppen fordern ein Ende des Reklamierens, des Lamentierens und der Suche. Sie fordern eine Entscheidung. Sie fordern ein „Ja“ zu sich und Gott. Ohne Grund. Sie ahnen, dass das nicht das Ende des Gesetzes der Schöpfung sein wird, aber ein Ende unserer eigenen Schöpfungen. Vielleicht ist es Zeit, alles in ein Moratorium zu schicken. Selbst und vor allem unser Bild von Kirche, Mensch und Gott selbst.
„What you got here won’t you get there” (Was dich hierhin gebracht hat, wird dich nicht nach drüben bringen) lautet ein amerikanisches Sprichwort. Und die Pioniere der neuen Welt müssen es wissen.
Wagen wir etwas Neues: Beklagen wir nicht die Abwesenheit Gottes. Feiern wir den Raum, den er uns gegeben hat. Das Geheimnis der Transzendenz verweist auf die grundsätzliche Anwesenheit in aller Verschränkung. Und ruft auf, selbst zum geliebten Liebenden zu werden und Gott in allem, was ist, zu suchen und zu finden. Ein Puzzlespiel. Eine Entscheidung. Eine Hingabe. Ein Liebesspiel – in allen Variationen.
Genügend Platz zur Entfaltung haben wir ja bekommen. //