Die Viel­geliebte

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Unsere Autorin blickt auf eine Kindheit zurück, in der es scheinbar an nichts fehlte. Erst viel später erkannte sie, dass sie emotional ausgebeutet wurde. Unsere Autorin blickt auf eine Kindheit zurück, in der es scheinbar an nichts fehlte. Erst viel später erkannte sie, dass sie emotional ausgebeutet wurde.

2/2023

Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden. Diesen Satz von Kierkegaard kann ich für mich nur bestätigen. Aufgewachsen bin ich in den 1960er-Jahren, zusammen mit einer älteren Schwester. Der Vater war kreativ und erfolgreich, aber verschlossen, die Mutter schön, und durch Krieg und Vertreibung gezeichnet.

Wir lebten in einem lichtdurchfluteten Haus, das meine Eltern gebaut hatten. Es war ein Bungalow der 60er-Jahre, sehr besonders, mit einem großem Innenhof, bepflanzt mit Ahorn, Azaleen und Kiefern, dazu Kies und schwere Findlinge und eine große, schwarze Holzterrasse. Japanische Anklänge fanden sich in der Architektur, der Einrichtung und der Kunst.

Schwarz und weiß waren die vorherrschenden Farben, das Hausinnere hatte bodentiefe Fenster, das Dach eine tragende Holzkonstruktion. Nach außen gab es eher wenige Fenster.

Während meine Klassenkameraden in den Ferien nach Österreich wandern gingen, machten wir Fernreisen nach Ceylon (heute Sri Lanka), Sizilien und Barbados, wohnten nur in den besten Hotels. Meine Schwester und ich wurden, trotz des Altersunterschieds von vier Jahren, gleich angezogen. Zweimal in der Woche gingen wir zum Ballettunterricht. 

Im Haus hatten wir viele Gäste, die Mutter war eine gute Köchin und Gastgeberin, an diesen Abenden glänzte der Vater als charmanter und intelligenter Alleinunterhalter. Kurzum: es war eigentlich alles da, was Kinder sich so wünschen konnten.

Nur, die Ehe meiner Eltern funktionierte nicht. Von Anfang an nicht. Da war Streit, aber es gab kein Gespräch, keinen Austausch zwischen den Eheleuten. Meist herrschte eisiges Schweigen. Wenn mal geredet wurde, war es gleich ein Streitgespräch. Ich kann mich an keine friedliche Zeit erinnern. Meine Mutter hatte die Angewohnheit, diese Stille mit klassischer Musik zu übertönen, vornehmlich mit Bach, den man im ganzen Haus hörte. In Kombination mit der angespannten Atmosphäre führte diese Beschallung dazu, dass ich mit Übelkeit auf klassische Musik reagierte, bis ins junge Erwachsenen-Alter hinein. 

Der Vater war aufbrausend und cholerisch, konnte mit seinen Gefühlen oft nicht gut umgehen. Einmal im Sommer, die Eltern des Vaters waren zu Besuch, gab es wieder irgendeinen Streit, bei dem er das große Korbtablett mit dem Frühstücksgeschirr (wir wollten im Garten frühstücken) ins Schwimmbad warf. Wir Kinder holten die Tassen und Teller im Tauchgang wieder hoch.

Aber er war auch sehr liebevoll. Die Strandurlaube in der Ferne waren eine Herausforderung für ihn, er konnte nicht schwimmen und hatte eine Sonnenallergie. So saß er angezogen, mit einem Buch unter dem Sonnenschirm, während wir uns im Meer tummelten. Meine Mutter war die Strandkönigin, während er oft Ausflüge ins Land machte, um die Kultur kennenzulernen

Kämpfe und Machtspiele waren an der Tagesordnung. Dabei ging es auch um mich. Mir kam das alles ganz normal vor. So ist das wohl in Familien – in der Ehe.

Da waren außereheliche Beziehungen auf beiden Seiten. Und natürlich kamen die jeweiligen »Partner« auch zu uns nach Hause. Wir Kinder wurden nicht geschont. Ständig drohten die Eltern mit Trennung, dann aber hätte einer von beiden das Haus verlassen müssen, und das wollte weder der Vater und schon gar nicht die Mutter. Das Haus war wichtig. Für ihn, der es quasi erschaffen hatte als Rückzugsort vor der Welt. Und für sie, die alles verloren hatte, als Sicherheit und Statussymbol. Wenn Gäste kamen, und es kamen viele, staunten alle immer über dieses schöne Haus, und wurden stolz hindurch geführt. Als krönender Abschluss für die Gäste war das elterliche Badezimmer vorgesehen, in dem eine Badewanne in die Erde eingelassen war, drei Stufen führten hinunter. In dieser Wanne hatten gut drei Erwachsene Platz.

Um all dies zu erhalten, musste ein System her. Die Lösung war: ich. Das Wunsch-Kind, das geliebte Kind. Mindestens ab meinem fünften Lebensjahr wurde ich zur Kontaktperson zwischen den Fronten, die Nachrichtenüberbringerin und Vertrauensperson für den Vater. Alles was die Mutter wollte, musste ich an den Vater herantragen – auch, was die ältere Schwester wollte. Und die Mutter war anspruchsvoll. So hatte er in mir eine Verbündete, eine emotionale Beziehung, der er seine Sorgen anvertrauen konnte. Die Mutter hatte ihre Ruhe und pflegte weiter ihr gesellschaftliches Leben. Ich war der Kitt, der die Ehe zusammenhalten musste. Eine gewaltige Aufgabe für eine Kind. Eine überfordernde Aufgabe.

Als ich älter wurde, schickte mich der Vater los, um die Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke für die Mutter zu besorgen. Einmal, ich war vielleicht 15, holte ich zu Weihnachten für sie ein schönes Schneidebrett mit integrierter Schublade für fünf gute Küchenmesser. Sie kochte ja schließlich gerne. Das Geschenk kam bei der Mutter nicht gut an – Messer verschenkt man nicht –, und das Weihnachtsfest war gelaufen. 

Meine Mutter, ein Flüchtlingskind, lebte eher nach dem Motto: was einen nicht umbringt, macht einen stark. So jagte sie mich, die ich eine Heidenangst vor Spinnen hatte, regelmäßig mit riesigen, schwarzen Spinnen durch das ganze Haus. Oder sie spielte vor dem Einschlafen im dunklem Zimmer Vampir, bis ich vor Angst beinahe ins Bett machte.

Natürlich ist das nicht so schlimm, wie im Treck vor der russischen Armee zu fliehen. Und trotzdem macht es etwas mit einem Kind. Sie fand das alles irgendwie okay, witzig sogar. Vermutlich hat sie niemals darüber nachgedacht, dass es einem Kind nicht gut bekommen könnte. Ist ja schließlich nur Spaß, kein Krieg. 

Meine Eltern wurden beide als Kinder im Krieg traumatisiert: Mit drei Jahren, noch vor dem Krieg, verlor meine Mutter ihren Vater, mit acht musste sie fliehen und mit 12 alleine den Haushalt führen, da ihre Mutter im Sanatorium war. Auf der Flucht musste sie mit ansehen, wie ihre Mutter von Russen vergewaltigt wurde. Mein Vater erlebte im Süden Deutschlands den Krieg, sah, wie Opfer unter Brandbomben auf die Größe von Kindern geschrumpft waren. Da war er sechs Jahre alt.

Daher kann ich mir das Verhalten meiner Eltern schon erklären. Kann ich es aber auch entschuldigen? 

Lange Zeit dachte ich, dass ich eine schöne Kindheit hatte. Und vieles war auch schön. Aber heute weiß ich, dass meine Eltern mir schweres Unrecht angetan haben, mir dadurch geschadet haben. Man nennt es emotionalen Missbrauch. Vor kurzem habe ich in einem Roman, in dem es um familiäre Übergriffe an einem Kind geht, den Spruch gelesen: „Dreckige Wäsche wäscht man zuhause“. Ich aber denke, man muß über solche Geschehnisse reden. Nur so kann Veränderung geschehen. Leider kann ich mit meinen Eltern nicht mehr darüber sprechen: mein Vater ist vor bald schon vierzig Jahren gestorben und meine Mutter in der Demenz versunken.

So muß ich die Arbeit machen. So wie damals auch.

Und meine Schwester? Sie hat ihre eigene Geschichte in dieser Familie erlebt. Aber diese sollte sie lieber selbst erzählen.  //