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Wenn das Kind ein Elternteil bevorzugt … Fragen an die Diplom-Psychologin Susanne Altweger

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2/2023

Ist, wenn ein Mädchen sich eher zum Vater, ein Junge sich zur Mutter hingezogen fühlt, immer ein ödipaler Komplex im Spiel, oder ist es nicht eher so, dass ein Kind ein Elternteil einfach etwas bevorzugt?

Der Ödipuskomplex ist nicht generell im Spiel. Nach seinem Entdecker Sigmund Freud setzt er erst in einem bestimmten Alter ein. Vorher hat schon eine Menge Entwicklung stattgefunden, und natürlich kann das Kind sehr früh ein Elternteil bevorzugen. Das hat meist mit bestimmten Fähigkeiten der Erwachsenen zu tun. Manchmal ist der Vater besonders interessant, da er in der Regel nicht so viel verfügbar ist wie die Mutter.

Hat das christliche, vaterbezogene Gottesbild womöglich Einfluss auf eine solche Hinwendung. Im Guten wie im Schlechten?

Nein, das glaube ich nicht. Die christliche Religion kennt zwar einen Vater-Gott, aber da ist auch das mütterliche Prinzip, verkörpert in der Mutter Gottes. Ich finde die „First Family“ im Hinblick auf Ihre Fragestellung übrigens sehr interessant. Der Sohn reformiert die Religion des Vaters, was einer Rebellion gleichkommt. Die Mutter Jesu verhält sich vorbildlich. Sie wundert sich über die Hochbegabung des 12-jährigen Sohnes im Tempel. Als Jesus erwachsen ist, lässt sie ihn ziehen und steht bis zum bitteren Ende hinter ihm.

Der Begriff Muttersohn ist extrem negativ besetzt, die Vatertochter hingegen kann sich sehen lassen. Das impliziert eine abwertende Sicht auf das Weibliche. Auch eine Folge des christlichen Gottesbildes?

Ja, sowohl was die Muttersöhne als auch die Vatertöchter betrifft stimme ich voll zu. Aber das impliziert nicht automatisch eine abwertende Sicht auf das Weibliche. Meiner Meinung hat das nichts mit dem christlichen Gottesbild zu tun, sondern eher mit Müttern, denen es schwerfällt, ihre Söhne lozulassen. Bestes Beispiel ist die Gralssage: Mutter Herzeleide (man beachte den Namen) zieht mit ihrem Sohn Parsifal in den Wald, um ihn vor den Reizen der Außenwelt zu bewahren, in der Hoffnung, er bliebe bei ihr. Der junge Mann aber will die Welt entdecken, wird jedoch von seiner klammernden und egoistischen Mutter zur Lebensuntüchtigkeit erzogen und hat so einen schwierigen Erkenntnisweg zu bewältigen. Er ist ein Muttersohn, der sich freischwimmen muss.

Wie stark prägt eine Vaterbeziehung das Leben der Tochter, wie eine Mutterbeziehung das des Sohnes?

Das hängt davon ab, ob sie positiv verläuft. Stellt der Vater ein Vorbild dar mit seinen der Außenwelt zugewandten Eigenschaften wie Leistung, Selbstvertrauen, sportlicher Ehrgeiz hat die Tochter eine Chance sich so zu entwickeln, dass sie in der Welt „ihren Mann steht“.

Ist der Vater negativ besetzt, hat das nicht selten gravierende Auswirkungen auf die Partnerwahl, denn unbewusst verachtet sie Männer.

Läuft es gut bei der Mutterbeziehung des Sohnes, fördert und fordert die Mutter ihren Sohn, ohne ihn allzu sehr zu verwöhnen. Die Gefahr, entweder einen bewunderten Macho heranzuziehen oder durch starke Umklammerung einen verweichlichten Muttersohn besteht grundsätzlich.

Ist es eher das Wesensverwandte, das ein Kind zu einem Elternteil zieht oder das Andersartige?

Grundsätzlich tendieren wir in der Eltern-Kind-Beziehung zu einer positiven Bewertung des Wesensverwandten. Was man kennt, versteht man besser. „Der kommt ganz nach mir“, heißt es dann mit Stolz. Das Kind wiederum versucht, den Erwartungen zu entsprechen, und daraus kann ein positiver Kreislauf entstehen. Es gibt aber auch Eltern, die sich von ihrem Kind Eigenschaften wünschen, die ihnen selbst fehlen.

Kann sich die Fixierung auf ein Elternteil im Laufe des Lebens wandeln?

Fixierung ist per se ein pathologischer Begriff, sie entsteht nicht von selbst. Zwei Beispiele: Der Vater wird von dem Sohn oder der Tochter bewundert wegen seiner positiven Eigenschaften, die Mutter wegen ihrer weiblichen Eigenschaften verachtet (Aufopferung für die Familie, Abhängigkeit). Die Kinder werden also Vaterkinder. Sollte der Mutter eine Veränderung ihrer Rolle gelingen, so werden die Kinder das vermutlich anerkennen und das Bild der Mutter allmählich korrigieren. Das stellt eine Entwicklung dar, das Gegenteil von Fixierung. Ein Elternpaar trennt sich, während die Kinder noch klein sind. Meist werden sie der Mutter zugesprochen und so ihrer Indoktrination vollkommen ausgesetzt. Wird der Vater zum „Bösen“, zur Ursache allen Übels, werden die Kinder zu einer Spaltung gezwungen. Dann sind sie auf die Mutter fixiert und haben frühestens als Erwachsene eine Chance, den verlorenen Elternteil wieder zu entdecken und ihr inneres Bild mit der Wirklichkeit abzugleichen. Das ist ein schwieriger Prozess, denn es entsteht eine kognitive Dissonanz, die aufgelöst werden muss.

Wie sieht eine optimale Vater/Tochter-, Mutter/Sohn-Beziehung aus?

Der Idealfall ist immer ein Konstrukt, aber ich will es versuchen: Der Vater fördert seine Tochter und gibt ihr das Gefühl, dass sie im Leben viel erreichen kann. Er stellt ein Vorbild dar und gibt ihr klare, ethische Werte mit auf den Weg. Er leistet aber der Idealisierung keinen Vorschub, damit es der Tochter gelingt, einen ebenso guten Partner zu finden.

Die Mutter fördert die männlichen Eigenschaften ihres Sohnes und ergänzt sie durch weibliche Werte wie Kommunikationsfähigkeit und Empathie. Sie versucht, nicht vollkommen in das Innenleben ihres Sohnes einzudringen und vor allem muss sie fähig sein, ihn loszulassen (Mutter und Töchter bleiben oft ein Leben lang Freundinnen, und es findet ein reger, seelischer Austausch statt). Sie sollte seine selbstständigen Entscheidungen respektieren und die Größe haben, ihre künftige Schwiegertochter ohne Wenn und Aber zu akzeptieren. Wenn dies alles so einfach wäre, gäbe es meinen Beruf nicht.  //