Ich
glaube
an das
Genie
der Frau

Sie gehört zu den wichtigsten Intellektuellen Frankreichs: Die Literaturwissenschaftlerin und Psychoanalytikerin Julia Kristeva will den Begriff Feminismus neu definiert wissen. Sie erkennt eine Krise der Männlichkeit und macht den „einseitigen“ gegenwärtigen Feminismus dafür verantwortlich. Für Kristeva ist die Mutterliebe eine völlig unterschätzte utopische Macht.

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1/2022

Stets ist sie elegant gekleidet, das Parfum sucht sie passend zum Outfit aus. Und sie gilt als große Philosophin der Weiblichkeit. Den Kulturkampf der Geschlechter als Massenbewegung nennt sie rachsüchtig und totalitär. „Es gibt keine pyramidale Gesellschaft mehr, an deren Spitze ein Mann steht. Viele Männer fühlen sich durch den aggressiv vorgetragenen Feminismus degradiert und gezwungen, sich mit der eigenen Weiblichkeit auseinanderzusetzen. Manche werden homosexuell, andere verlieren ihre Libido, fühlen sich erniedrigt und orientierungslos. Wieder andere helfen im Haushalt, nehmen Elternzeit. Die wenigsten von ihnen gelangen zu einer Form der Harmonie,“ sagte sie in einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung.
Der gegenwärtige Feminismus verachte zudem zu viel von dem, was eine Frau ausmacht: Vor allem die Mütterlichkeit, das ist eine ihrer Grundthesen.
Julia Kristeva, in Bulgarien geboren, war Schülerin von Roland Barthes,
lehrte an der Universität Paris Diderot und war Mitherausgeberin des gleichnamigen Philosophiemagazins. Bekannt wurde sie in den Siebzigerjahren als glamouröse Vorzeigefrau jenes feministischen Denkens, das die Welt verändern sollte und doch zum Kampfbegriff verkommen ist.
Heute will Julia Kristeva den Begriff Feminismus weitergedacht wissen.
Mit der Mee-too Debatte zum Beispiel kann sie sich nicht identifizieren: „Ich erkenne mich nicht in militanten Bewegungen, sondern glaube an das weibliche ‚Genie‘, eine Frau sucht für sich allein aus, was sie ist oder sein will.“
Dass Frauen die finanzielle, politische und kulturelle Macht derjenigen Männer herausfordern, die unter dem Deckmantel der Verführung unterworfen und missbraucht haben, sei wichtig und unterstützenswert. Das Geschlechterverhältnis müsse neu gedacht werden.
„Es geht um neue, universelle Rechte.“
Die männliche Sexualität nennt sie einen „völlig unerforschten Kontinent“, mit dem Frauen sich mehr beschäftigen sollten. „Diese weist ganz andere Besonderheiten auf als die weibliche Sexualität. Der heutige Feminismus vernachlässigt die Frage nach der Gewalt als Teil der männlichen Erotik.“
Traditionell haben sich nur Männer damit auseinandergesetzt: Sokrates, Nietzsche, Freud etc., doch Kristeva, die Intellektuelle, spricht von einer weiblichen Form des Denkens und des Schreibens, das sich Zugang zu diesem Thema verschaffen sollte.
Noch immer unterrichtet sie an der Universität und behandelt zwischendurch Patienten in ihrer Pariser Wohnung. Ihr Feminismus sei immer persönliche Freiheitsfindung gewesen: Dazu gehörte für sie auch die frühe Ehe mit dem Schriftsteller Philippe Soller, mit dem sie einen Sohn hat und mit dem sie bis heute verheiratet ist und zusammenlebt.
Ihr 1980 erschienenes Buch Pouvoir de l’horreur: Essai sur l’abjection machte sie schlagartig berühmt: Darin stand Unerhörtes: Der menschliche Ekel vor Körperflüssigkeiten, vor Erbrochenem, Eiter oder Blut hänge, laut Kristevas These, unmittelbar mit unserer Trennung vom Körper der Mutter zusammen.
Überhaupt ist die Mutterschaft ein zentrales Thema ihrer Forschungen und ihrer Publikationen.
Der heutige Feminismus verachte zu viel von dem, was eine Frau ausmacht: Vor allem die Mutterschaft. Sich als Frau zu definieren sei im 21. Jahrhundert etwas sehr Privates, eine Art der Auseinandersetzung mit sich selbst und der Frage: Wer bin ich, und wer will ich sein im Bezug auf meine Umwelt!
Schon als junge Frau stand sie den Thesen von Frauen wie Simone de Beauvoir kritisch gegenüber, für die „ein zu stillendes Kind eher ein Blutegel war und die dazu gehörende Mutter eine vom Mann unterdrückte Reproduktionsmaschine.“
Kristeva hielt dagegen und bemühte ausgerechnet den Katholizismus: Die christliche Ikonografie habe die Komplexität des Mutterseins besser begriffen: traurig-fröhliche Mariendarstellungen, eine Frau, die sich einem Kind opfert, das selbst geopfert werden wird: Glück und Schmerz.
„Die Frau, so Kristeva, „verkörpert seit je Sex und Mütterlichkeit.“
Julia Kristeva wurde mit zahlreichen Preisen und Ehrungen überhäuft und ist darüber hinaus eine Frau mit enormem Einfluss. In ihren gut dreißig Büchern behandelt sie Themen wie „Weibliche Depression“, „Die Leiden der Seele“, aber auch die Entfremdung des Menschen von sich selbst. Etliche ihrer Schriften sind zu Klassikern der Gegenwartsliteratur geworden, besonders ihr dreibändiges Werk Das weibliche Genie – Das Leben, der Wahn, die Wörter. Darin porträtiert sie so unterschiedliche Frauen wie die Philosophin Hannah Arendt oder die Psychoanalytikerin Melanie Klein – all ihre Texte bestechen durch intellektuelle Redlichkeit.
Irritierend für viele ihrer Anhänger ist die Tatsache, dass die bekennende Linke sich vor einiger Zeit sogar der heiligen Teresa von Avila zugewandt hat, einer Frau „die nicht zum Kernbestand des feministischen Kanons gezählt wird“ (Hans-Joachim Neubauer in Christ & Welt). In der Karmeliterin und Mystikerin sieht Kristeva eine Frau von erstaunlicher Unabhängigkeit. Kristeva verbindet ihre historischen Lektüren mit einer ungewöhnlichen Einschätzung der Rolle von Frauen im Christentum. Für klassische Feministinnen ist es verstörend, wie sie die Mutterliebe als utopische Macht beschreibt. „Wenn es der Menschheit gelingt, Geburten zu programmieren und das genetische Erbe zu modifizieren und dadurch das Risiko des Neuen in einen Automatismus zu verwandeln, droht ihr Untergang“.
Für Kristeva birgt allein die Mutterliebe die geschichtliche Möglichkeit, einem utopischen Denken Grund, Halt und Hoffnung zu geben – und diese Überzeugung trägt sie ohne populistischen Eifer vor. //

Foto: Imago Stock Foto