Wen die Muse küsst
oder die Kunst braucht göttlichen Beistand

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Was ersehnt der Mann zur Inspiration? Frauen! Schöne, kluge, unerreichbare Frauen.

3/2020

Wie soll man es nennen, wenn ein Mann über Jahrzehnte hinweg einer ersehnten Frau immer wieder die Ehe anträgt, und immer wieder entstehen statt einer Heirat neue Gedichte, die unsterblich werden? Wie soll man es nennen, wenn die Frau immer wieder Nein sagt, auch weil sie weiß, dass die Vergeblichkeit der Sehnsucht die Quelle der Kunst ist? Einmal sagt sie ihm klar: „Dichter sollten nicht heiraten.“ Er versucht es trotzdem aufs Neue. Als wisse er nicht, was sie antworten wird, als sehe er nicht, dass sie nicht wartet, sie ist ja verheiratet, lässt sich scheiden, heiratet neu, bekommt Kinder, vor allem aber, sie hat zu tun. Sie kämpft als irische Revolutionärin für die Freilassung politischer Häftlinge, als Feministin für inhaftierte Frauen, wandert ins Gefängnis, kommt wieder frei, steht als Schauspielerin auf der Bühne, wird zur Legende des irischen unabhängigen Geistes: Maude Gonne, die um 1900 als Muse des Dichters und Nobelpreisträgers William Butler Yeats eine Lyrik inspiriert hat, die für die Ewigkeit ist.
Die Antike wusste, wie man so eine nennt: eine Quellgottheit. Ursprung aller Begeisterung, Inspiration aller Kunst, des Gedankens, der Philosophie: eine Muse. Die Antike war sicher, die Kunst braucht göttlichen Beistand, um entstehen zu können. Für Yeats ist dann der Beistand ganz nah und ganz fern zugleich: Maude Gonnes Unerreichbarkeit ist eine notwendige Bedingung für seine Kunst.
Neun Musen gibt es in der griechischen Mythologie, von denen im 7. Jahrhundert vor Christus der Dichter Hesiod in der Theogonie erzählt, und sie wohnen in der Gefolgschaft des Gottes Apoll am Fuß des Parnass an den kastalischen Quellen, deren Wasser im Mythos die Gabe des Dichtens verleiht. Alle neun Musen sind Töchter der Erinnerungsgöttin Mnemosyne und des allmächtigen Zeus, der seinen Sieg über die Urgötter durch Poesie kultisch feiern lässt. Töchter der Macht, Helferinnen des göttlichen Genius, unerschöpfliche Quellen der Kunst, rein geistige Wesen. Und, in einer männlich gestimmten Geistesgeschichte, immer nur weiblich. Männliche Musen sucht man in der Geschichte bis vor Kurzem ziemlich vergebens. Dichter ruft Muse an, sie liefert den Kick, er wird berühmt: Ein langweiligerer Bauplan für große Kunst lässt sich auf Dauer kaum denken.
Aber nicht die Langweiligkeit des Musters lässt die Musen nach der Antike für lange Zeit aussterben, sondern ihre Zugehörigkeit zu einer heidnischen Welt. Wie sollte denn im christlichen Abendland ein Dichter, den ein heiliger Geist inspiriert, noch eine Muse anrufen? Im Mittelalter sind die Musen tot, oder sie tauchen, nützlich geerdet, neu auf und sorgen für Hammelbraten, für Küsse, für Bier.
Dann aber, als im Hochmittelalter das Ideal der höfischen Liebe die angebetete leibhaftige Frau zur Kunstquelle macht, werden reale weibliche Wesen als Muse umso wirksamer – unter der Bedingung, dass sie unerreichbar sind. Die Muse küsst nicht.
Mal sind diese Musen für den Dichter außer Reichweite, weil sie schon verheiratet sind (Petrarcas Laura, und zwar über 21 Jahre hinweg); mal, weil sie schon tot sind (Dantes Beatrice, sie ist noch im Himmel für ihn tätig, indem sie in der Göttlichen Komödie am Eingang des Paradieses steht, um durch die neun Himmelssphären zu führen); mal, weil die reale Frau sich doch nicht so recht aus der Konvention raustraut (Goethes Frau von Stein, immerhin 1700 Briefe hat er der Mutter von sieben Kindern geschrieben).
Die Muse ist eine Dehnungsübung der männlichen Fantasie. Die modernen Quellgottheiten dehnen die künstlerische Einbildungskraft des Mannes, sie weiten die Sehnsucht bis in die philosophische Tiefe, in spirituelle Ferne, in die Subtilität der Dialektik, in die Unendlichkeit neuer sprachlicher Formen. Aber diese Musen denken nicht selbst.
Das allerdings ist anders bei Maude Gonne. Denn Gonnes Unerreichbarkeit war nur eine der Bedingungen für die Kunst des Lyrikers Yeats. Maude Gonne war viel mehr: ein Gegenüber. Sie repräsentierte für ihn, als selbst Denkende, die antike Weisheit und Inspiration im platonischen Sinne und zugleich die höfische Fernliebe der gälischen Tradition. Und dann war da noch das merkwürdig okkulte Geistergeschehen, das diese beiden Menschen verband. Sie teilte mit ihm, dem Protestanten, den Glauben ans Überirdische und kämpfte zugleich, als politische Katholikin, für seine Nation. Sie war die Quelle seiner Ideen, und ihr Körper, in seinen Versen, ideal.
Vielleicht ist das Erstaunlichste an dieser Muse Maude Gonne aber, dass die Sehnsucht nach ihr in Yeats’ Leben andere Musen hervorbrachte, unter ihnen Gefährtinnen für die sexuelle Liebe, eine leibhaftige Ehefrau und Mutter mit einiger spiritueller Sonderbegabung, insgesamt waren es, tatsächlich, neun, wie sie Joseph Hassett in seiner hinreißenden Studie über Yeats’ Musen aufgezählt hat. Neun: Das kann man ruhig eine Wiedergeburt der antiken Musen nennen.
Die letzte dieser neun hat Yeats, als er alt wurde, in sich selbst hören können. Seine Kreativität, so sagte er es als alter Mann, entspringe aus der „Frau in mir selbst“. Er war sich selbst zur Muse geworden. Die Altersgedichte von William Butler Yeats, darin sind sich die Kenner einig, sind seine schönsten. //

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