von Johannes Boldt
Wem sind schon die großen Lyriker und Schriftsteller, die Poeten, Romanciers spanischer Literatur vertraut? Sicher, ein Don Quijote de la Mancha von Cervantes, der den Idealismus der Ritter- und Schäferromane mit dem Realismus seines Schelmenromans verbindet – ein Juwel der Weltliteratur – dürfte bekannt sein. Oder Azorín (Pseudonym des José Martinez Ruiz, †1967) mit seinen klassischen Erzählungen über Spanien. Oder auch der Poet und Philosoph Miguel de Unamuno (†1936) und der Nobelpreisträger für Literatur von 1989 Camilo José Cela. Wer aber weiß schon, dass kein europäisches Land eine so umfangreiche mystische Literatur aufweisen kann wie das Spanien des Siglo de Oro? Weit über dreitausend Werke in Vers und Prosa entstanden in Castellano, in der Sprache des Volkes. Ignacio de Loyola, Juan de la Cruz, Alonso de Orosco, Fray Luis de León und die große Spanierin, Teresa de Ávila, la Santa, waren die Autoren. Seit der Entdeckung und Eroberung Amerikas trat die iberische Halbinsel nicht allein in die Geschichte ein, sondern bereicherte mehr noch mit ihrer Liebesmystik die Weltliteratur. Dabei setzten die spanischen Mystiker auf die Entdeckung Gottes in den Herzen der Menschen und seiner Eroberung durch hingebende Liebe – als Troubadoure Gottes. Oder wie Ramon Llull es formulierte: „Lernen das Wachsen der Liebe zu lieben“.
Die Spanische Mystik des Siglo de Oro, des Goldenen Zeitalters – dabei darf man auch das 13. Jahrhundert mit Ramon Llull nicht vergessen – ist prägend für die christliche Mystik Europas, denn sie beweist ihre praktische, ja politische Seite, ohne ihre intellektuelle aufzugeben. Für das Verständnis der Mystik, das durch den heute weitverbreiteten Mystizismus jeglicher Herkunft gelitten hat, liefert sie neue Einsichten und hilft zu verhindern, dass der Begriff „Mystik“ zu einem literarischen Schlagwort, zum – wie P. Sudbrack es einmal formulierte – „Container-Begriff“ verkommt, und das alles, was irgendwie nach Weihrauch oder religiöser Esoterik riecht, damit verbunden wird. Denn ob New Age, okkulte, spiritistische oder parapsychische Phänomene, das alles muss das Wort „Mystik“ heute abdecken. Christliche Mystik, belegt durch das Leben der Mystiker und Mystikerinnen, ist aber jeder Schwärmerei und Geschäftemacherei oder seelischer Abenteuerlust Widersacher. Spanische Mystik will keine Geheimlehre sein; sie wurde eher so etwas wie eine Volksbewegung in Spaniens Siglo de Oro und damit offen für jeden, der bereit ist, sich auf den Weg der inneren Einkehr und Selbsterkenntnis zu begeben, um aus seiner Kontingenz in die Transzendenz Gottes zu treten.
Auf das Subjekt, auf den Menschen (anthropozentrisch/psychologisch) und seine Bestimmung war die spanische Mystik und Geisteshaltung im 16. und 17. Jahrhundert fokussiert, wo sie später ihre Ausprägung erfuhr. In ihrem Mittelpunkt der Mensch und die Wirkungen Gottes in seiner Seele.
Christliche Mystiker rufen uns Menschen gerade in Krisen zum Innehalten auf und demonstrieren, dass der Mensch mehr ist als ein funktionierendes Wesen, ein Rädchen im Wirtschaftskreislauf. Die Texte, Prosa und Poesie der Mystiker sind aus deren eigenen Lebenskrisen entstanden, aus denen sie in heilsamer Selbstkritik herausfanden. Die Mystiker und Mystikerinnen verkörperten einen Glauben, der die Erde und die Menschen liebt, wie uns der Karmelitermönch Johannes vom Kreuz singt:
Mein sind die Himmel und mein ist
die Erde;
mein sind die Völker, die Gerechten
sind mein,
und mein sind die Sünder;
die Engel sind mein
und die Mutter Gottes ist mein
und alle Dinge sind mein,
und Gott selbst ist mein und für
mich,
denn Christus ist mein und alles ist
für mich.
Was ersehnst und suchst du also
noch, meine Seele?
Dein ist all dies, und alles ist für
dich.
Demgemäß konstatiert der Physiker Hans-Peter Dürr (†München 2014) in seinem Buch Liebe – Urquelle des Kosmos: „Es ist die Liebe, die uns ins Leben rief und leben lässt.“
Gerade in Menschheitskrisen, in denen sich jeder selbst der Nächste ist, in denen Solidarität und Subsidiarität zu Fremdwörtern wurden, erinnert uns die Mystik an eine Dimension, in der sich der Mensch entfalten und verwirklichen, einer Selbstentfremdung von Mitmensch und Gott entgegenwirken kann.
Spanische Mystik ist Liebesmystik, „ciencia de amor“, Wissenschaft der Liebe, wie uns der Mystiker Johannes vom Kreuz (Juan de la Cruz †1492) in seinen lyrischen Versen seiner Llama de amor viva (Lebendige Liebesflamme) lehrt: Flamme der Liebe, die so zärtlich mich berührt in meiner Seelenmitte, nicht kann ich ihr widerstehen … Seine Gotteserfahrung war die Liebe.
Nur in der Liebe verwirklichen wir unser Menschsein. Die Liebe ist das Alpha und Omega, der Mystik höchstes und letztes Streben, die den Menschen im Glauben „vergöttlicht“, ins „Milieu divin“ (Teilhard de Chardin) erhebt, zur „unio mística“, zur Einheit des Menschen mit Gott trägt.
Mystik erfährt sich so als heilende Quelle für den sich selbstentfremdeten Menschen. Es lohnt sich nach España Mística zu reisen; Dem Verfall in eine Lethargie könnte eine Beschäftigung mit den mystischen Schriften entgegenwirken und somit von großem Nutzen sein und eine neue Sicht unseres Daseins erahnen lassen. „Herz, worauf wartest du? Lieben kannst du sofort!“ (Johannes vom Kreuz). Eine universelle, existentielle Botschaft für uns heute in Zeiten der Pandemie. //
Der Autor ist Diplom Theologe, Referent für Religions- und Weltanschauungsfragen, u.a. Gastdozent an der Universidad de la Mística OCD Ávila.