von Sven Schlebes
„Am Anfang war das Wort“, heißt es bei Johannes. „Das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott selbst. Von Anfang an war es bei Gott. Alles wurde durch das Wort geschaffen und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist.“ Diese universelle Sprache zu entdecken, zu verstehen und sprechen zu können, davon träumen Menschen seit jeher. Sprachforscher sehen im Aramäischen eine der ältesten Sprachen der Menschheit. Paradiesisch, doch mit unvollständigem Wortschatz. Der Alchemist John Dee glaubte im 16. Jahrhundert mit Hilfe der Engel der göttlichen Sprache auf die Spur gekommen zu sein. Die „henochische Sprache“, wie er sie eingedenk der alten Patriarchen, nannte, hielt fortan Einzug in alle magischen Seancen im alten Europa, um Gold zu finden, Monster zu erwecken und die Zukunft vorauszusagen. Besser noch: sie zu erschaffen. Wir heutigen Christen haben die Suche nach der Urformel der Welt den Naturwissenschaftlern überlassen. Für uns zählt der Geist, den die Sprache verkörpert, und den Weg, den er uns weist. Vor allem in den Gebeten mit Gott. Ob im Schma Jisrael für die Juden oder im Vater Unser des Christentums. Auch wenn Worte für uns ganz im göttlichen Schöpfungssinne neue Realitäten erschaffen können, folgen wir ihnen im Vertrauen auf ein Ankommen im großen Garten des ewigen Lebens. Ihr Klang ist für uns eine Pilgerreise ohne Wiederkehr mit dem großen Ziel der Verschmelzung.
Altes Pilgergebet
Der Herr sei vor uns, um uns den rechten Weg zu zeigen. Der Herr sei neben uns, um uns in die Arme zu schließen und uns zu schützen. Der Herr sei hinter uns, um uns zu bewahren vor dem Bösen. Der Herr sei unter uns, um uns aufzufangen, wenn wir fallen, und uns aus der Schlinge zu ziehen. Der Herr sei in uns, um uns zu trösten, wenn wir traurig sind. Der Herr sei um uns herum, um uns zu verteidigen, wenn wir bedrängt werden. Der Herr sei über uns, um uns zu segnen. So segne uns der gütige Gott, der Vater und der Sohn und der Heilige Geist. Amen.
Die Liebe soll das Herz des Christentums sein, sein Alpha und Omega, Weg und Erfüllung zugleich. Und doch tun wir Christen uns schwer mit dem universellen Liebesgebot. Vor allem mit den Facetten der körperlichen Liebe. Von einigen als Teufelswerkzeug verdammt, in monastischen Kreisen als Hindernis auf dem Weg zu Gott und seinem Himmel verkauft und geopfert. Und zugleich in bizarrster und leidbringender Form an sich selbst, Schutzbefohlenen und Minderjährigen ausgelebt. Dabei ist auch hier das bewusste Erleben aller Facetten nicht nur eine körperliche Sensation. Sondern auch eine spirituelle. Das wussten nicht nur Tantriker im fernen Himalaya. Das war auch den Zeitgenossen um den biblischen König Salomo bewusst, die mit der heute als „Hohelied Salomos – Lied der Lieder“ bekannten Liedtextsammlung rund um Sehnsucht, Liebe und Erotik dem Spiel der Geschlechter eine transformierende Kraft zusprachen und in einer Pilgerreise der Liebenden zum Ausdruck brachten. Die Seele, die sich nach der Wiedervereinigung mit dem himmlischen Ursprung verzehrt: Der Geruch des Geliebten, sein Lachen, die Samtheit seiner Haut, die Straffheit junger Brüste, tiefe Grübchen, frisches Quellwasser der Lust. Wer den Körperlinien seines oder seiner Geliebten folgt, das tiefe Leuchten in den Augen entdeckt und Tropfen für Tropfen den Segen des Abendmahls der Liebe empfängt, ahnt zumindest für einen Augenblick die Weite des Lebens, seines Ursprunges und seiner Erfüllung. So muss er gemeint gewesen sein, der Himmel: „Er küsse mich mit dem Kusse seines Mundes; ja, deine Liebe ist köstlicher als Wein.“
Alles Leben kommt aus dem Wasser. Sagt die Biologie. Kein Wunder, dass in den Religionen rund um den Globus seit jeher Quellen und Flüsse, Tümpel und Meere heilige Orte waren, um sich von Sünden reinzuwaschen und das alte Leben für eine neue Identität abzulegen. Viele Pilgerreisen und Wallfahrten haben Orte des Wassers als Ziel formuliert. Zugleich aber Orte der absoluten Wasserabwesenheit in Kontrast dazu gesetzt. Die wüstengleichen Orte als Begegnungsstätten der Versuchung, die wasserreichen als Vervollkommnung und Neugeburt. Es sollen die drei Marien Maria Jakobäa, die Schwester der Heiligen Jungfrau Maria, Maria Salomé, die Mutter der Apostel Jakobus und Johannes, und Maria Magdalena gewesen sein, die ausgesetzt in einer Barke über das Wasser aus dem heiligen Land flohen und am Strand in der Camargue landeten. Mit dabei: Ihre schwarze Dienerin Sara. Die Frauen evangelisierten die umliegenden Dörfer und legten so den Grundstein für die Ausbreitung des Christentums im alten-neuen Europa. Vor allem die geheimnisvolle Sara zieht als Schutzheilige der Sinti und Roma die Menschen in ihren Bann. Rund um den 24. Mai strömen aus allen Teilen Europas ihre Jünger zu Lande und zu Wasser nach Les Saintes Maries de la Mère, um der selbstlosen Dienerin und Mittlerin der kulturellen Welten zu gedenken und sie als Statue aus der Krypta ins Meer zu tragen. Aus dem sie als Schaumgeborene wieder auftaucht und Rettung verheißt für alle Mitschwimmenden und Wasserpilgernden: Taucht ein in das große Abenteuer des Lebens und feiert es jeden Tag.
www.lessaintesmaries.fr
Pilger sind Menschen, die in die Fremde ziehen, um Buße zu tun, Vergebung zu erfahren, ein Gelübde zu erfüllen oder sich der geistlichen Vertiefung zu ergeben. Für die meisten von uns ist das ein Ort möglichst weit weg. Das Gegenteil des eigenen Küchentisches oder der Sofacouch mit Leseecke. Eine Reise mit möglichst großem Kraftaufwand. Für die Jesuiten führte der Weg in die Fremde jedoch nicht in das weit entlegenste Bergdorf am Ende der Welt. Das Ende beginnt für Jesuiten buchstäblich vor der eigenen Haustür. Ihre spirituelle Übungsform der „Strassenexerzitien“ ist bewusst niedrigschwellig konzipiert, um die Hürden zum Pilgerweg praktisch aus dem Weg zu räumen. Im Mittelpunkt: Die eigene Frage an das Leben und Gott, mindestens einen Tag lang ohne Rückkopplung an das eigene Heimatnetz. Getreu dem Motto „Die, die da sind, sind die Richtigen“ wird der im Alltag schnell durchkreuzte Raum langsam in seiner Andersartigkeit erfahren und samt Menschen, Tieren und Dingen als Ausdrucksform des göttlichen Theaters gedeutet: eine klare Botschaft zum Anfassen. Auch wenn die Reise durch die Fremde „allein“ begangen wird: Sowohl die Aussendung als auch die Ankunft am Abend wird in der Gruppe erfahren. Geteilt. Miterlebt. In seiner ganzen Weite und Tiefe.
www.strassenexerzitien.de
Wer das Weite sucht, vor allem spirituell, folgt in Europa meistens der Jakobmuschel, um auf einem der zahlreichen Wegstrecken ins sagenumwobene Santiago de Compostella zu gelangen. Um zahlreiche Insta-Bilder und – wenn es gut läuft – inneren Einsichten reicher und gesegnet. Das Ablaufen der regional ebenso häufig vorkommenden Kreuzwege dagegen fristet ein Schattendasein. Angelehnt an den Leidensweg Jesu Christi bei seiner Kreuzigung in Jerusalem – der Via Dolorosa – laden die fast in jeder Stadt vorhandenen Wallfahrtswege an sieben, vierzehn oder manchmal auch fünfzehn Stationen Pilgernde ein, sich dem Geheimnis des Lebens über das Leiden Christi zu nähern und so ein einseitiges, weil nur auf Freude ausgerichtetes Leben um seine „dunkle“ Seite zu vervollständigen. Als Gebet und Andacht erschritten, ermöglicht der Kreuzweg eine Begegnung mit den eigenen Abgründen, dem tief erlittenen Schmerz und der Möglichkeit einer Neugeburt.Ein Weg, weit weg vom Schönheitspathos vieler Pilgerreisen. Als zu kurz und unspektakulär verpönt. Und doch erhaben in seiner oft unverstandenen Tiefe.
www.katholisch.de/artikel/21386-diese-kreuzwege-sind-besonders