von Brigitte Haertel
Mahner vor einem Leben in Überfluss und Abhängigkeiten hat es früh gegeben. Einer, der zu Weltruhm gelangte, war Henry David Thoreau. Mit 27 Jahren ging er in die Wälder, um die Zivilisation eine Weile hinter sich zu lassen. Er baute sich eine Hütte am Walden Pond bei Concord, Massachusetts, lebte dort zwei Jahre, zwei Monate und zwei Tage, auch, um herauszufinden, was ein gutes Leben ist. Sein berühmtestes Buch Walden wurde zum Klassiker und zur Aussteigerbibel schlechthin. Es ist ein Dokument tiefer Empfindsamkeit den Kräften der Natur gegenüber, und es ist gespickt mit Lebensweisheiten, die Menschen zu einem einfachen, naturnahen Leben anregen sollen. Walden ist auch das literarische Vermächtnis eines genialen Stilisten und Chronisten. Hochpoetisch und feinsinnig beschwor er die Schönheit der Ostenküstenregion, „das Säuseln der Bäume, das Gluckern des Sees, das Knacken im Unterholz“ – und die Gefahr der Zerstörung durch die Zivilisation.
Wer war dieser Mann, den in den USA heute jedes Kind kennt als einen der größten Nationaldichter überhaupt.
Thoreau wird 1817 als Sohn eines Bleistiftfabrikanten in Concord geboren. Die französischsprachigen Vorfahren stammen aus Europa. Er studiert im nahegelegenen Harvard, wird Lehrer, überwirft sich aber bald mit der Obrigkeit, weil er sich der körperlichen Züchtigung der Schüler verweigert. Er quittiert seinen Dienst und gründet mit seinem Bruder eine Privatschule. Es wird eine kurze Episode, bald stirbt der Bruder an Tuberkulose.
Henry David Thoreau lernt Ralph Waldo Emerson kennen, den Begründer des Tranzendentalismus, einer naturalistisch/spirituellen Strömung, die christliche, indische und mystische Weisheiten zusammendachte, und dem damals amerikanische Dichter und Denker wie Nathanail Hawthorne, Herman Melville und Emily Dickinson angehören.
Dogmatische Religionen nein, Gott ja, war das Credo der Freigeister. Materialismus und das rein rationale Denken der Aufklärung lehnten sie ebenfalls ab, wendeten sich lieber der Natur und ihren Geheimnissen zu.
Der zutiefst naturverbundene Thoreau findet sich wieder in dieser Weltanschauung und entfernt sich immer weiter von der Gesellschaft, die er als fehlgeleitet empfindet. Er engagiert sich gegen die „Umsiedlung“ der Indianer, gegen die Sklaverei, die erst nach seinem Tod 1865 in den USA endgültig abgeschafft wird.
Als Sozialutopist geht er noch weiter: er weigert sich, Steuern zu zahlen, polemisiert gegen die ausbeuterischen Kräfte des Kapitalismus und kritisiert den Raubbau an der Natur.
Auf sein Buch Walden berufen sich bald linke Aktivisten wie auch konservative Wertebewahrer – ein Kunststück, das nur wenigen Schriftstellern gelingt.
„Genieße das Land, doch besitze es nicht, sei mit Entschlossenheit, was du bist, suche die Einfachheit und tue, was du liebst“, das sind die Sätze, die bis heute vor allem junge Menschen elektrisieren und zum Nachdenken anstiften.
In seiner Hütte am Walden Pond skizziert Thoreau, was er täglich um sich herum wahrnimmt, mit den Tieren des Waldes ist er vertraut: Schlangen winden sich an ihm hoch, Fische schwimmen ihm in die Hände und Füchse und Luchse verbirgt er vor den Jägern.
Nathaniel Hawthorne schreibt über Thoreau: „Die Natur scheint ihm aus Dankbarkeit für seine Liebe ihre Geheimnisse zu zeigen, die sonst nur wenigen Menschen offenbart werden.“
Zur totalen Einsamkeit reicht es nicht: Er arbeitet weiterhin, hält Vorträge, geht regelmäßig in die Stadt, um Neuigkeiten zu erfahren. Die Familie besucht ihn, um ihn mit dem Nötigsten zu versorgen. Dann wieder versenkt er sich in Einsamkeit und Kontemplation.
„Ich bin eher einsam als gesellig, aber von jeder Jahreszeit beschwingt.“
Während Aussteiger häufig in der weiten Welt Sinn und sich selbst suchen, blieb Thoreau dem Städtchen Concord bis an sein Lebensende verbunden. Im Südwesten des Ortes stand sein Geburtshaus, fünf Kilometer außerhalb des Ortes seine Hütte, und begraben ist er auf dem städtischen Sleepy Hollow Cemetery, ein Wallfahrtsort für eine noch immer glühende Anhängerschar.
„Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Bedacht zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näher zu treten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hatte, damit ich nicht in der Stunde des Todes einsehen müsste, dass ich nicht gelebt habe.“
Das ist sein berühmtestes Manifest. Während der Jahre am See wächst in ihm der Widerstand gegen die US-Regierung, er übt Kritik an der kapitalistischen Wirtschaftsordnung seines Landes und glaubt, bei seinen Mitmenschen eine Verzweiflung zu beobachten, die er auf dieses System zurückführt. Thoreau beobachtet die Arbeiter auf dem Feld und beim Bau der Eisenbahn im Schweiße der Mittaghitze und ist sicher, „den Irrtum von Besitz“ zu erkennen.
„Mit harter Arbeit erwerben sie Güter und Ländereien, die ihnen schwer werden und ihren Geist an der Freiheit hindern.“
Wegen einer Lappalie muss er für einen Tag ins Gefängnis, steigt im Kreis seiner Getreuen zum Helden auf, um von späteren Generationen als Vordenker des zivilen Ungehorsams gefeiert zu werden. Globalisierungsgegner beziehen sich heute auf seine Schriften.
Als politisches Vorbild taugt der spirituelle Waldgänger allerdings nur bedingt. Der erste Popstar der grünen Bewegung und sein widerspruchsvolles Leben und Denken passten ohne Zweifel in die damalige Zeit, in der sich das Leben in den USA rasend schnell veränderte.
Er war wohl der wahrhaftigste Amerikaner, der je gelebt habe, urteilt sein Biograf Frank Schäfer über ihn.
Auf die Frage, ob er mit Gott seinen Frieden geschlossen habe, antwortete der an Tuberkulose erkrankte, sensible Thoreau der Concorder Tageszeitung: „Ich wüsste nicht, dass ich jemals nicht im Frieden mit ihm gelebt hätte.“
Mit 44 Jahren stirbt der eigenwillige Denker, geleitet von 44 dumpfen Glockenschlägen wird er zu Grabe getragen.
Überlebt hat sein glühendes Plädoyer für ein freiheitliches Leben in der Natur. //