von Andreas Püttmann
Es gibt sie nicht, die einfache Formel oder Maßeinheit, nach der sich beziffern ließe, wie viele Fremde eine Gesellschaft „verkraften“ kann. Schon wer „fremd“ ist, unterliegt mehrdimensionaler Betrachtung: Ist es der Nicht-Staatsangehörige oder der Nicht-EU-Bürger? Der bloß in einem anderen Land oder der in einer ganz anderen Kultur Sozialisierte? Der nicht-assimilierte Migrant oder auch noch seine Kinder, die eine deutsche Schule absolvierten? Als CDU-Chef Friedrich Merz von „kleinen Paschas“ aus Migrantenfamilien sprach, ereilte ihn aus Düsseldorf das nüchterne Echo seines Parteifreundes Hendrik Wüst: „Das sind unsere Kinder. Diese Kinder sind unsere Zukunft, eine andere haben wir nicht.“
Die Unbestimmbarkeit eines exakten Maßes kann allerdings nicht bedeuten, dass die Aufnahme- und Integrationskapazität einer Gesellschaft beliebig erweitert werden kann, weder im organisatorischen noch im sozialpsychologischen und kulturellen Sinn. Zu den anthropologischen Konstanten gehört das Bedürfnis nach einer sozial erfahrbaren Identität und Heimat. Neben der legitimen und bereichernden Vielfalt von Glaubens- und Wertorientierungen, Sitten und Gebräuchen bis hin zu Kunst und Kulinarik erwarten Menschen eine gewisse Berechenbarkeit im Umgang miteinander und Klarheit darüber, was gesellschaftlich die Regel und was Ausnahme ist. Verlieren Lebensgewohnheiten der Mehrheitskultur zu sehr an Bestandssicherheit, regen sich „cultural defense“-Reflexe und der soziale Frieden leidet. Es ist daher ein Gebot politischer Klugheit, Entfremdungs- und Radikalisierungsspiralen zwischen einheimischer Mehrheit und zugewanderten Minderheiten vorzubeugen und der Abschottung in „ethnischen Kolonien“ entgegenzuwirken. Eine transparente Migrationspolitik, deren Regeln auch praktisch vollzogen werden, wird Zuwanderung im Licht bisheriger Integrationserfahrungen ordnen und begrenzen. Die meist arabisch-muslimisch dominierten antisemitischen Demonstrationen und Übergriffe nach dem bestialischen Hamas-Überfall auf israelische Zivilisten – oft ohne prompten, klaren Widerspruch aus dem eigenen Milieu –sind ein Weckruf.
Auf der anderen Seite stehen demografische und ökonomische Daten: Ein erheblicher Anstieg der deutschen Geburtenrate ist unwahrscheinlich. Er hülfe dem Arbeitsmarkt eh erst nach 20 Jahren. Experten schätzen den Bedarf an Einwanderern auf jährlich etwa 400.000 Personen. Arbeitskräftemangel ist inzwischen nicht nur bei „Fachkräften“ offenkundig, sondern auch bei wenig ausbildungsintensiven Diensten wie der Paketzustellung, Gastronomie oder Abfertigung am Flughafen. Laut einer OECD-Studie, die bürokratische Hürden bei Visaerteilung, Zukunfts- und Bleibeperspektiven, Möglichkeiten für Familienmitglieder und Umgang mit Diversität berücksichtigt, ist Deutschland in der Attraktivität bei hoch qualifizierten Fachkräften international auf Platz 15 zurückgefallen.
Doch statt sich ins Notwendige zu fügen und Integrationsprobleme pragmatisch zu bearbeiten, wendet sich ein Teil der Deutschen völkisch-nationalistischen Kräften zu, die eine unterkomplexe „Das Boot ist voll“-Stimmung verbreiten. Dass „Deutschland viele Flüchtlinge aus Krisengebieten verkraften kann“, meint laut „Politbarometer“ noch jeder Dritte; vor einem halben Jahr war es jeder Zweite. Laut der „Mitte-Studie“ 2023 stieg der Anteil ausgeprägt fremdenfeindlicher Deutscher seit 2020 von 4,5 auf 16,2 Prozent, der „Graubereich“ derer, die Ressentiments teilweise zustimmen, von 21,3 auf 30,3 Prozent. Zusammen sind die Werte um 20 Prozentpunkte höher als in der „Flüchtlingskrise“ 2015/16. Vormals moderate Politiker reden neuerdings von „Passdeutschen“ (Was sonst als die Staatsangehörigkeit ist Maßstab des Grundgesetzes?) oder von „physischer Gewalt“ an der Grenze.
Bricht er wieder durch, der deutsche Triumph der Idee – hier einer homogenen „Kulturnation“ – über die Wirklichkeit eines Einwanderungslands, einer „Staatsnation“? Bleibt auf der Gegenseite ein „Multikulti“-Idealismus unerschüttert von offensichtlichen Integrationsproblemen? Gilt Europas „metaphysischem Volk“ (Madame de Stael) wieder „die Welt als Wille und Vorstellung“? Motto: Wenn meine Ideen nicht zur Wirklichkeit passen – Pech für die Wirklichkeit? Beide Varianten würden uns schaden.
Die Politik müht sich mittlerweile verstärkt um den Schutz der Außengrenzen, um Sanktionen, mehr Ausweisungen Ausreisepflichtiger und internationale Verträge zur Rückführung. Das Problem der nötigen Kohärenz grundlegender Wertvorstellungen für den Zusammenhalt einer Gesellschaft besteht allerdings nicht nur zwischen „denen, die schon länger hier sind“ und neu zuwandernden Fremden oder fremd Gebliebenen. Auch die Einheimischen zeigen sich kulturell zunehmend gespalten und teilweise moralisch verroht. Vor manchen „Volksgenossen“ kann man sich, zumal als Christ, nur fürchten.
Gesellschaftlicher Frieden beruht nicht auf sozialer Gleichheit, sondern auf der Sozialverträglichkeit der Vielfalt. Dafür ist von Fremden und Einheimischen vor allem Rechtsgehorsam zu verlangen, aber auch Loyalität mit dem demokratischen Staat und Kooperation mit seinen Organen; Bereitschaft, seinen Lebensunterhalt, soweit möglich, selbst zu bestreiten und die Landessprache zu erlernen, Toleranz gegenüber anderen Religionen, Weltanschauungen und Lebensentwürfen. Kriminalität ist mit polizeilichen Mitteln, mit kreativem Quartiersmanagement, Bildungs-, Präventions- und Resozialisationsarbeit sowie konsequenter Rechtsprechung zu begegnen, nicht mit pauschaler Verdächtigung und Ausgrenzung ganzer ethnischer Gruppen, auch nicht, wenn sie eine überdurchschnittliche Delinquenz aufweisen. Hierfür gibt es mehrere Gründe, vom größeren Anteil junger Männer über soziale Hypotheken beim Bildungszugang oder der Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse bis zu fehlender Arbeitserlaubnis oder konfliktefördernd beengten Wohnverhältnissen. Für solche Missstände ist die aufnehmende Gesellschaft mitverantwortlich. Von Diskriminierung und Hetze, die eingeforderte Integrationsbereitschaft zunichtemachen können, ganz zu schweigen.
Es wäre unhistorisch und anthropologisch naiv, Fremdenfeindlichkeit nur als Reaktion auf straffällige oder integrationsunwillige Migranten zu verstehen. Sie wird sogar als politisches Geschäftsmodell regelrecht bewirtschaftet und geschürt. Als im April 2018 in Münster ein 48-Jähriger mit einem Kleinbus in eine Menschengruppe fuhr, vier Menschen tötete, 20 teils schwer verletzte und sich erschoss – Name: Jens Alexander R. –, twitterte die Bundestagsabgeordnete Beatrix von Storch: „Ein Nachahmer islamischen Terrors schlägt zu. Und die Verharmlosungs- und Islam-ist-Vielfaltsapologeten jubilieren. Das Ausmaß des Jubels ist der Beweis, dass alle die geleugnete Gefahr genau sehen: der Islam wird wieder zuschlagen.“ Abgesehen von der Verwischung des Unterschieds von „islamisch“ und „islamistisch“ folgte die „Herzogin“ der Logik: Ist es ein Muslim, fühlt man sich bestätigt. Ist es keiner, hätte es aber einer sein können, und damit ist man wieder bestätigt. Aus der Wahnwelt des Islamhasses gibt es keine Ausgangstür. Sie ist vollständig selbstreferenziell und hat sich von der Faktizität emanzipiert.
Während Kardinal Marx 2017 für die Bischofskonferenz die „Verunglimpfung anderer Religionsgemeinschaften“ zu den „roten Linien“ zählte, die Christen nicht überschreiten dürften, heizt die deutsche Rechte (der trotz „Stand with Israel“ überdurchschnittlich viele Antisemiten zugehören) Fremdenfeindlichkeit primär durch eine Verteufelung des Islam an. Der Muslim wird zum Inbegriff des Fremden, ja des „Invasoren“. Kommt die Rede auf den Islam, entdecken Misogyne und Homophobe plötzlich ihr Herz für Frauen- und LGBT-Rechte und Heiden eifern fürs „christliche Abendland“. Im AfD-Programm kommt das Wort „Christentum“ 1 Mal vor, „Islam“ 36 Mal. Kein Wunder, dass die Deutschen in einer Ipsos-Umfrage 2018 den muslimischen Bevölkerungsanteil (6-7%) grotesk überschätzten: aufs Dreifache (21%). Im Irrtumsindex verzerrter Realitätswahrnehmung verschätzten sich die Deutschen häufiger als viele andere der 37 befragten Nationen und landeten im Realismus nur auf Rang 24.
Wie viele Fremde eine Gesellschaft verträgt, ist also eine Gleichung mit mehreren Variablen, die nicht nur mit ökonomischen und infrastrukturellen Fakten sowie dem Verhalten der Fremden zu tun haben, sondern auch mit Mentalität und Moral der Einheimischen und ihrer Meinungsführer. Befunde des Bertelsmann-Religionsmonitors und von Allensbach zeigen, dass von den Kirchen ethische Impulse ausgehen für Vertrauen, Empathie, Toleranz und Hilfsbereitschaft auch gegenüber Fremden. Angesichts des Christenschwunds fehlen sie inzwischen spürbar, ohne dass dies den meisten Menschen bewusst würde.
Die Bibel betont: „Der Herr beschützt die Fremden“ (Ps 146,9). Man darf ihr Recht nicht beugen (Dt, 24,17), sie nicht ausnützen oder unterdrücken (Ex 22,20). Jesus identifiziert sich mit ihnen: „Ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen. Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25, 34f,40). Wenn Christen und Kirchen „Ja“ zur Demokratie sagen, haben sie es allerdings loyal mitzutragen, wenn politische Mehrheiten anders entscheiden als Papst und Bischöfe votieren. Gebote des Glaubens müssen mit Analysen und Forderungen der Vernunft, auch der politischen, gemäß der „rechten Autonomie“ der irdischen Wirklichkeiten (Gaudium et spes 36) verknüpft werden. Christen können aber nie sagen: Was gehen mich diese Fremden aus Syrien, Afghanistan, Iran an? Der „Nächste“ im Sinne Jesu ist keine geographische, keine nationale und keine konfessionelle Kategorie. Christsein kein Wellness-Sahnehäubchen eines „gutbürgerlichen“ Wohlstandsegoismus. //
Dr. Andreas Püttmann
ist Politikwissenschaftler,
Journalist und Publizist