Foto: Tabitha Turner/unsplash

Über das Phänomen des „Fremdschämens“

Das
übernehmen
wir!

von

5/2023

Nichts weidet den schlechten Charakter so schön, als anderen Menschen beim öffentlichen Versagen, beim peinlichen Danebentreten, beim schamlosen Normenverletzen beiwohnen zu dürfen. Ganze TV-Formate ruhen auf diesem Umstand. Für die Peinlichen, für die Schamlosen übernehmen wir das Schämen, quasi im nie erteilten Auftrag. Manche bemächtigen sich gar in einem Überbietungswettbewerb an Demutsprotzerei ganzer Diskurse und kennzeichnen sie in vorauseilender Inbesitznahme als „schämenswert“. Das alles geschieht übrigens sehr häufig in nie eingeholtem Einverständnis mit der „Gesamtgesellschaft“. Und damit das unansehnliche Kind einen Namen hat, wurde es irgendwann um die Jahrtausendwende „Fremdscham“ getauft. 

Der psychoanalytische Coach Christian Schneider sieht in einem Aufsatz in der TAZ den Begriff „Fremdscham“ als ein „Lieblingswort des identitätspolitisch aufgeladenen Neusprechs“. Die neue Schamoffensive mache einen bemerkenswerten Umbauprozess ziviler Verhaltenscodes kenntlich: „nicht er oder sie soll sich schämen: Ich tue es, stellvertretend – angeblich um den anderen zu schonen. Aber mit triumphierend großgeschriebenem ICH“. 

Ich bestimme, was „schämenswert“ ist, ich bestimme, wer sich bitte schön fremdzuschämen hat. Immer ist „Ich ein Anderer“, sagt der Psychoanalytiker Jacques Lacan. Es wollen uns zahllose Momente einfallen: nachgerade weltberühmt das Gestammel beim finalen Abgang des Stasi-Ministers Erich Mielke vor der Volkskammer der schon im Sterbebett liegenden DDR 1989: „Ich liebe, ich liebe doch alle, alle Menschen“, wofür der Cheforganisator von Bespitzelung, Gängelung und Drangsalierung eines ganzen Volkes nur noch höhnisches Gelächter erntete. Warum Fremdscham? Weil wir ihn weiter als den kalten Vollstrecker sehen wollten, als das Gruselmonster, das aus dem Nebel des weitgehend Anonymen spektakulär hervortritt. Stattdessen ein kümmerlicher, winselnder Greis, zum „Fremdschämen“, wenn schon er es nicht tut. Als Paradeexemplar der Fremdscham gilt bis heute der Altherrensex-Apostel des deutschen Fernsehens, Thomas Gottschalk. Auf der Couch weibliche Gäste betatschend und mit lauwarmer Wortspiel-Akrobatik um billigen Applaus heischend: disgusting! Ein Heer der Unberufenen hat das weggeschämt: so sind wir „anderen“ doch nicht.  

In der Fremdscham, so schreibt Coach Schneider, werde ausgehandelt, wie wir „die anderen“ haben wollen: Mielke als den ewigen Stasi-Schlächter, Gottschalk als den politisch und ethisch korrekten TV-Grüßonkel. Es sei, so Schneider, eine als Demut getarnte Allmachtsfantasie. In ihr könne unauffällig das Ressentiment gegen alles von „unserer“ Norm Abweichende gelebt werden. 

Es suhlt sich herrlich in der Scham über Normabweichende, wenn man selbst jede Norm treu inhaliert hat, es erhebt einen selbst in der Scham „der Fremden und des Fremden“, wenn man sich so wohlig gut fühlt auf der richtigen Seite, die man flugs vorher selbst definiert hat. Was aber ist mit der aufrichtigen Scham von uns selbst, mit dem Schämen über „Heimisches“, über uns direkt Betreffendes? Kollektive Scham, weil wir zu einer Gruppe, zu einer Partei, zu einem Verein, zu einer Religion gehören?

Machen wir uns nichts vor: wir Katholiken sind darin wahre Experten geworden. Seit Jahren und unaufhörlich wachsend müssen wir uns für den durch irdische Hand herbeigeführten unsäglichen Zustand der uns zur Heimat gewordenen „una sancta“ schämen. Wir sind im wahrsten Sinne des Wortes unentwegt und andauernd „betroffen“. Be-troffen und ge-troffen von einer schamlosen Doppelmoral, die Werte und Überzeugungen dekorativ wie auf Silbertabletts unüberseh- und hörbar vor uns hergetragen hat, die Träger triefend von moralinsaurem Gehabe und überlegen wähnender Arroganz. Im Kern war alles schon faul, im Kern waren die überlegenen Gesten schon damals verlogen, im Kern sollten sich die Täter des Missbrauchs in Grund und Boden schämen. 

Stattdessen: schämen wir uns. Wir schämen uns für etwas, was uns nicht „fremd“ ist, sondern was tief in uns verwurzelt ganz „heimisch“ geworden ist. Da ist nichts Wohliges, nichts Aufgesetztes, nichts „Schadenfreudiges“: das ist einzig nur aufrichtige Scham!  //