von Anne Gellert
Sie sollten wissen, ich bin weiß, habe einen akademischen Grad und durfte als „A-Ausländerin“ an der Germanistischen Abteilung einer Universität in Japan unterrichten. Mein Gehalt war hoch. In der Gestaltung meines Sprachunterrichts und meiner Seminare war ich vollkommen frei. Kumamoto ist eine für japanische Verhältnisse kleine Stadt (etwa so groß wie Düsseldorf) und die Bewohner und Bewohnerinnen gelten als lebensfroh und sehr gastfreundlich. Ich kam 1995, kurz nach der „Bubble“, an und blieb bis 2009. Japan ging es wirtschaftlich noch besser. Konsum gehörte zum guten Ton. „Man“ ging jeden Abend aus. Die Innenstadt brummte.
Zwei Jahre wollte ich ursprünglich bleiben und ging davon aus, in dieser Zeit weder viel zu lachen zu haben noch echte Freunde zu finden. Wie sehr täuschte ich mich! Wann habe ich in Japan eigentlich nicht gelacht! Und wie dankbar bin ich für all die beständigen Freundschaften, die bis heute halten.
Was hat mich Japan noch gelehrt? Aufmerksamkeit für meine Umgebung und mein Gegenüber! Nicht alles in Worte fassen! Vagheit aushalten und auch für mich nutzen! Weniger fragen und kritisieren, mehr mitmachen! Mehr lächeln! Mich darauf verlassen, dass für mich gesorgt ist. Den Moment wahrnehmen und genießen dürfen. Von der guten Absicht ausgehen dürfen! Ja, ich zähle hier absichtlich die Punkte auf, die ich persönlich als bereichernd empfunden habe. Ich bin Japan sehr dankbar, neue Handlungsoptionen erlebt und sie für mich erobert zu haben.
14 Jahre zwischen Japan und Deutschland bedeuten, immer gleiche Fragen auf beiden Seiten zu beantworten. Hier schon mal die häufigsten Antworten für die deutsche Seite: Nein, Japaner arbeiten nicht bis zum Umfallen. In Japan sind Genuss und Entspannung viel stärker in den Alltag verankert. Nein, japanische Frauen sind nicht so unterdrückt, wie es scheinen mag. Im Vergleich finde ich die Geringschätzung deutscher Hausfrauen viel schlimmer. Nein, man isst nicht andauernd rohen Fisch und Reis. Die Küche ist vielfältig und lecker. Nein, Japaner leben nicht nach dem immer gleichen Schema X, ich finde sie sehr individuell. Nein, auch wenn es mir extrem gut gefällt, ich möchte nicht auf ewig in Japan bleiben. Ich bin deutsch und werde immer deutsch empfinden. Auch das hat mich Japan gelehrt.
Die meisten meiner Antworten blieben unverstanden, auch wenn mein deutsches Gegenüber beharrlich nachfragte. Das Problem ist die Sprache. Nicht die japanische. Sondern die deutsche! Deutsche Konnotationen und Konzepte greifen in Japan nicht. Können Sie sich vorstellen, dass „Abhängigkeit“ positiv besetzt sein kann? Lesen Sie Takeo Doi!
Eigene Anschauung hilft. Deutsche Freunde, die mich besuchen, spüren selbst: Wie aufmerksam man miteinander umgeht! Wie selbstverständlich man Bedürfnisse antizipiert und darauf reagiert. Wie wunderschön die vielfältigen Speisen angerichtet werden. Wie ausgelassen man miteinander feiert und isst! Und wie selbstverständlich nach zwei Stunden Schluss ist. Wer weitermachen will, geht mit ins nächste Lokal. Wer genug hat, verabschiedet sich ohne lange Erklärung.
Japaner können sich einer Sache ganz hingeben. Marie Kondo wollte schon als Kind die Welt aufräumen. Sie hat es geschafft, und ich bin ihr unendlich dankbar, dass in meinen Schränken nun langfristig Luft, Ordnung und Freude herrschen. Kürzlich war zu lesen, Marie Kondo würde mit inzwischen drei Kindern ihr eigenes System wohl nicht mehr einhalten. Ja, darf sie! Das schmälert ihre Leistung nicht. Meine Erwartung an andere bezüglich Stringenz und Perfektionismus haben – Gott sei Dank – in Japan sehr gelitten!
Einmal bot ich ein Tandem-Seminar für japanische und deutsche Studierende an. In der ersten Sitzung sollten sie die Themen der einzelnen Sitzungen festlegen. Die acht deutschen Teilnehmer redeten die ganze Zeit. Die acht japanischen Teilnehmer äußerten sich kaum. Das Gespräch führte zu keinem Plan, sondern zu Ratlosigkeit und großer Verzweiflung auf beiden Seiten. Die Deutschen zweifelten an der Intelligenz der Japaner. Sie hatten ja gar nichts gesagt. Die Japaner waren entsetzt über die Deutschen, die offenbar keinerlei Interesse an ihren Ansichten gehabt und ihnen keine Zeit zum Antworten gelassen hatten. Es ist einfach der schnellere bzw. langsamere Sprecherwechsel. Für alle unter Ihnen, liebe Leser, die mit Japanern zu tun haben: Zählen Sie erstmal still auf Drei, bevor Sie einen Kommentar nachschieben! Vor allem bei wirklich wichtigen Geschäften, denn dann fällt es besonders schwer, die eigenen Verhaltensmuster zu ignorieren. Lernen Sie, Sprechpausen ein- und auszuhalten. Es lohnt sich!
Auch ist es kein Ausdruck mangelnder Intelligenz, wenn Japaner nicht antworten. Japaner äußern sich erst, wenn sie ganz sicher sind und die Antwort mit allen Beteiligten abgestimmt ist. Der Vorteil: man kann sich darauf verlassen, dass es dann auch so klappt. Das hat jemand mal treffend beschrieben mit: Die Deutschen spielen Ping Pong, werfen sich die Ansichten locker zu und formen so eine Entscheidung. Die Japaner: sie kegeln. Man kann sich leicht vorstellen, was passiert, wenn man einen Ping Pong-Ball für eine Bowling-Kugel hält und umgekehrt. Genau das ist Standard im deutsch-japanischen Miteinander. Lernen Sie zu bowlen! Auch das lohnt sich.
In Japan muss man nicht antworten, Schweigen und Ausweichen sind ok. Zu Loriots Sketch „Hermann“, manchen besser bekannt als „Ich will hier nur sitzen!“ kam im Seminar nach etwa zwei Minuten Stille die Frage: Warum antwortet der Mann (seiner Frau)? Ja, genau, in Japan braucht man das nicht, vor allem zu Hause. Das Seminar zu „deutsche und japanische Witze“ hielt viele weitere erhellende Momente für uns bereit. Seither kann ich kaum noch über deutsche Witze lachen. Allzu oft kommen sie mir menschenverachtend vor. Auch Ironie und Sarkasmus sind mir komplett abhandengekommen.
Wenn man in Japan einen Arzt, Handwerker oder Ähnliches sucht, schaut man nicht ins Branchenbuch. Man fragt gewöhnlich nach einer Empfehlung und Vermittlung. Auch die Dienstleister erwarten dies. Einmal luden mein japanischer Freund und ich mehrere deutsche Austauschstudierende in ein kleines Restaurant auf dem Land zum Essen ein. Es gefiel allen sehr gut. Die Deutschen wollten später nochmal dorthin gehen und fragten nach der Adresse. Wir boten an, die Reservierung für sie zu machen. Sie lehnten ab. Sie wollten das allein machen. Schließlich sprechen sie Japanisch und sind erwachsen! Sie hatten keinen Erfolg. Man bucht in Japan einfach nicht direkt, wenn man den Inhaber nicht kennt.
Die Sommer in Kumamoto beschreibe ich gern als „Freiluft-Sauna“. Ziemlich unerträglich. Mit den Studierenden las ich mal ein Gedicht, das die angenehme Stimmung und die Geräusche auf einer (deutschen) Sommerwiese pries und lobte. Es dauerte eine Weile, bis ich verstand, dass die jungen Leute die Vorstellung, im Sommer im Gras zu liegen, um sie herum brummt und summt es, als nicht angenehm empfanden. Bei der Hitze und der Allgegenwart von Ungeziefer in Japan eigentlich klar!
Erdbeben, Vulkanausbrüche und Taifune gehören seit Jahrtausenden zu Japans Alltag. Sehr schnell wird einem klar, dass man sein Leben nicht zu 100% selbst bestimmen kann. Wenn die Erde wackelt, muss ich raus, egal wo und wie ich mich gerade befinde. Reden und Diskutieren hilft hier überhaupt nicht. Der Bambus lebt es einem vor: Bei einem Taifun biegt sich das Rohr bis zum Boden und richtet sich unversehrt wieder auf, wenn der Sturm vorbei ist. So machen es auch die Japaner. Man wartet ab, bis der Sturm vorbei ist und macht sich dann gemeinsam ans Aufräumen. Sehr pragmatisch! Katastrophen lehren einen auch, dass man aufeinander angewiesen ist. Auch in stressigen Situationen bleiben Japaner ruhig, drängeln nicht. Alle sollen es schaffen. Keiner versucht, schneller zu sein als die anderen. Alle machen Platz, wenn man durch will, selbst im dichtesten Gedränge. Keiner schreit rum. Auch hier lohnt es, davon zu lernen.
Es hat lange gedauert, vielleicht acht oder neun Jahre, bis ich es greifen konnte: Das japanische Leben folgt einer Logik, die in sich völlig stimmig ist. Und das deutsche Leben folgt einer Logik, für die das gleiche gilt. Beide Systeme in sich sind, wie sie sind, und jedes für sich funktioniert wunderbar! Das eine ist weder besser noch schlechter. Und vor allem: keines muss sich dem anderen angleichen. Kultur ist so tief in uns verwurzelt, dass Äußerlichkeiten wie Schuluniformen oder fremdländische Restaurants kaum Einfluss haben darauf, was man als richtig und falsch empfindet. Wie die Dinge zu sein haben. Die Einführung des Döner hat in Deutschland ja auch nicht dazu geführt, dass wir Türken werden. //
Dr. Anne Gellert studierte Sinologie und Deutsch als Fremdsprache. 9 Jahre lehrte sie an der Universität Kumamoto, 5 Jahre war sie in Tokio stellvertretende Leiterin des Deutschen Akademischen Ausschusses.