von theo
Im Jahr 2013/2014 begann in der Kunstsammlung Düsseldorfer K21 ein spektakuläres Projekt des argentinischen Künstlers Tomás Saraceno mit dem Titel in orbit. Bis zum Dezember 2023 war in der großen Halle in luftiger Höhe eine begehbare Rauminstallation aus Seilen und Ballons gespannt. Sie wurde für ein Jahrzehnt zum Publikumsmagnet. Jenseits dieser aufregenden Raumskulptur hatte Saraceno in einem abgedunkelten Raum eine außerordentliche Arbeit geschaffen. In zwei rechteckigen Quadern aus leichten Stahlprofilen, von oben angeleuchtet, ließ er Spinnenarten, die im Verbund bauen, auf Einzelgänger treffen und beobachten, wie sie sich untereinander arrangieren. Im ansonsten abgedunkelten Raum konnte man dem Prozess dieser lebenden Rauminstallation zusehen. Über Monate entstand so ein undurchdringliches Netz aus Millionen feinster Fäden, eine Gebilde von ätherischer Schönheit, gestaltet von Geschöpfen der Natur in einem für sie durch und durch unnatürlichen Habitat. Das Bemerkenswerte dabei war darüber hinaus, dass ausgerechnet Spinnen, für viele Menschen durchaus angsteinflößende Geschöpfe, die Baumeister dieser Raumgebilde waren.
In einer meiner frühesten Erinnerungen wache ich an einem Sommernachmittag in meinem Kinderbettchen auf. Das Zimmer ist abgedunkelt, gefiltertes Nachmittagslicht dringt durch die geschlossenen Läden ein. Staub tanzt in gebündelten Sonnenstrahlen, mir ist wohlig warm, das Haus trägt seine gedämpften Geräusche bis zu mir. Ich rieche Sommer und fühle Ruhe. Der Raum ist so breit wie hoch, das Bett bietet mir Schutz, nichts ist bedrohlich. Friedliche Ruhe, alles ist nichts. Keine Fragen – diesseits und jenseits – alles ohne Belang.
Beide Erlebnisse sollen veranschaulichen, wie sich mein Schönheitsbegriff gebildet und buchstäblich immer weitergesponnen hat; neben den Einflüssen von Bildung und Ausbildung, von professioneller Schulung und anschließender Ausübung meines Berufes als Architekt waren es vor allem diese Erfahrungen und Einflüsse, teils aus der Kindheit, teils erwachsene aus den vergangenen Jahrzehnten. Sinnliche Erinnerungen spielen für uns Menschen eine außerordentliche Rolle, sie bestimmen seelische und auch körperliche Seinszustände. In der Menschheitsgeschichte waren und sind sie Antrieb für unser gesellschaftliches Miteinander.
Nach Vitruv, dem römischen Architekten und Theoretiker, ruht die Architektur als Mutter aller Künste auf drei Säulen, nämlich der Stabilität (Firmitas), der Nützlichkeit (Utilitas) und der Anmut und Schönheit (Venustas). Die Architektur ist für Vitruv die Königin aller Künste, und eine ihrer drei Säulen, nämlich die Venustas, soll nun Gegenstand unserer Betrachtung sein. Aber damit tut sich schon die erste Untiefe auf. Über die beiden Säulen Nützlichkeit und Stabilität, wie leicht ließe sich über sie schreiben. Das Schöne jedoch hat etwas Ungreifbares, es ist, wie beispielsweise das Göttliche auch, überirdisch.
Bei Wikipedia findet sich kein deutschsprachiger Eintrag über das Schöne. Warum wohl? Keiner Philosophie, Literatur und Kunst ist es bis heute gelungen, eine allgemein gültige Definition des Schönen zu liefern. Von Sokrates über Platon zu Augustinus, vom Mittelalter über die Renaissance bis zur Moderne haben sich Viele daran versucht, jedoch ihnen allen ist die Schönheit bislang entkommen.
Sie ist da – aber wir können sie nicht fassen. Sie bewegt uns, aber wir können sie nicht binden. Die Scholastiker sprachen von den Transzendenzien, den Gegenstandsbereichen jenseits möglicher Erfahrung oder vorfindbarer Wirklichkeit, gebündelt in unum (dem Einen), verum (dem Wahren), bonum (dem Guten), später dann fügten sie pulchrum (das Schöne) hinzu. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts hat die klassische Trias des Wahren, Schönen und Guten das künstlerische Leitbild westlicher Kultur entscheidend geprägt. Mit Beginn der Moderne setzte ein Ablösungsprozess ein. Die Kunst hatte nun immer weniger zum Ziel, dem Wahren, Schönen und Guten zu folgen. Vielmehr stellten sich Menschen die Frage, ob die Begriffe von Schönheit und Poesie nicht viel lebensnäher werden müssten, politischer, gesellschaftsrelevanter? Es ging um die Auflösung traditioneller, gesellschaftlicher Strukturen.
Quid est veritas (was ist Wahrheit)? Diese Frage stellt
Pilatus Jesus, nachdem dieser gesagt hat: ich bin gekommen, Zeugnis für die Wahrheit abzulegen. In unserem Kontext ließe sich die Pilatusfrage leichthin abwandeln: was ist Schönheit?
Wie nähert man sich ihr an? Architektur ist greifbar, fassbar, dreidimensional. Architektur ist Raum, selbst wenn sie nur als Zeichnung daherkommt. Auch die Architekturzeichnung stellt Raum dar, ist vielleicht nicht gebaut, entsteht aber im Geist der Betrachter, fügt sich zu Räumen und damit in die Dreidimensionalität. Aber das, was Architektur über Stabilität und Nützlichkeit hinaus ausmacht, das eben mündet in diese Frage: was ist Schönheit in der Architektur?
Eine weitere meiner Kindheitserinnerungen ist der Besuch im Haus meiner Tante auf dem Land. Tante und Onkel wohnten in einem alten niedersächsischen Bauernhaus, ein typisches Fachwerkhaus mit großem Tor, einer Tenne und den dahinter liegenden Wohnräumen. Der Onkel hatte den Betrieb lange aufgegeben, die Wirtschaftsräume standen leer. Die Diele wurde geprägt von einer riesigen Esse aus Stahl über einer offenen Feuerstelle auf steinernem Fußboden. Dicke Eichenscheite glühten im Winter unter dem Rauchfang, nebenan wirtschaftete meine Tante in der großen Bauernküche. Es roch nach geräuchertem Schinken und Eichenbrand. Dicke Fauteuils im Wohnzimmer, selbstgestickte Kissenbezüge, Zigarrenrauch und herrliche Kuchen – Gemütlichkeit vergangener Zeiten.
Sie werden fragen: was hat das alles mit Schönheit in der Architektur zu tun? Und ich werde Ihnen antworten: alles!
Schönheit, das ist subjektive Annäherung, ist der jeweiligen Sicht derjenigen unterworfen, die sich mit dem Schönen beschäftigen. Und in unserem Drang als Gestalter suchen wir, diese Sicht in Form zu bringen. Wir versuchen, die Erinnerungen, die Empfindungen, das Hintergrundrauschen mittels Gestaltung sichtbar werden zu lassen. All unsere Sinne beeinflussen dies. All unsere Erfahrungen fließen ein.
Ich bin kein Philosoph, bin kein Theologe und schon gar nicht Wissenschaftler und Forscher zu den Fragen von Anmut und Schönheit. Dennoch bin ich als gestaltender Architekt immer auch dem Schönen verpflichtet. Nur ist dieses Schöne – wie bereits festgestellt – so diffus wie das Göttliche. Und darum bewegt das Schöne oder die Schönheit bis heute. Die Suche nach ihr ist wesentlicher Bestandteil kultureller Entwicklung. Sie findet sich in der gesamten Schöpfung, wir entdecken sie in den kleinsten Details. Architekturen auf der ganzen Welt können Schönheit atmen, ebenso aber auch die einfachste Behausung indigener Völker.
Das Schöne tut uns gut, das Schöne kann eine bessere Gesellschaft formen. Letztlich jedoch ist uns das Schöne immer mehr abhandengekommen. Das je ne sais quoi (ich weiß nicht, was) birgt die Schwierigkeit, eine ästhetisch ansprechende Qualität genauer bestimmen zu wollen. Heute wird das Schöne, das mit dem Hässlichen oder Banalen konkurriert, zunehmend relativiert. Aber, auch unsere Zeit hat Schönheit im Repertoire.
Für mich ist Schönheit das, was wie selbstverständlich daherkommt. Es ist all das, was zunächst ohne Erklärung auskommt. Schönheit und Anmut sind die Spiegel unserer Seele. Die 2500 Jahre alte Stadt Shibam im Wadi Hadramut [QR CODE 1] wurde von Menschen gebaut, die nie Schulen besucht oder Bildung genossen haben. Ihre Stadt wurde aus Lehm gebaut, die ältesten Häuser dort sind 500 Jahre alt. Sowohl die Stadt als auch ihre einzelnen Gebäude sind auf das Feinsinnigste mit ihrer Umwelt verwoben, sie sind Wärmespender in der Nacht, sie bieten schattige Kühle am Tag. Die Stadt wächst förmlich aus dem felsig-sandigen Wüstenboden – Staub bist du, und zu Staub wirst du! Alles an dieser Stadt und ihren Häusern ist sinnvoll, nachvollziehbar, logisch und schön.
Das Ganze ist ein Vielfaches des Einzelnen. So wie Zellen in der Natur, das Geflecht eines Blattes oder eben die Netze der Spinne. Schönheit steckt ebenso in der Zahlenreihe des Fibonacci, fortschreitend nähert sie sich dem Goldenen Schnitt. Die Architekten und Künstler der italienischen Renaissance suchten nach ihr, sie schufen Gebäude von anmutiger Schönheit. Der Goldene Schnitt war ihr ständiger Begleiter.
Für mich persönlich steckt die Schönheit auch in ihrer Vergänglichkeit. 1851 hat die französische Commission des Monuments Historiques fünf Fotografen mit der Aufgabe betraut, die Monumente Frankreichs mittels des damals noch sehr jungen Mediums Fotografie einzufangen. Die Idee dahinter war unter anderem, angesichts des zunehmenden Verfalls dieser zum Teil jahrhundertealten Bauwerke und Denkmäler ihre Schönheit mittels der Fotografie festzuhalten, zu dokumentieren und der Nachwelt zu hinterlassen. Dabei beschäftigten sich die Fotografen nicht nur mit einzelnen Bauwerken, vielmehr wurden auch Stadtansichten und Landschaften mit einbezogen. Entstanden ist ein Kompendium hunderter Daguerreotypien von malerischer Schönheit, zuletzt von Anne de Mondenard zusammengestellt in dem Bildband La Mission héliographique. [QR CODE 2] Das Besondere der Bilder liegt in ihre Ruhe und ihrer erhabenen Entrücktheit.
Die liebsten Spielplätze von Kindern sind der umgestürzte ausgehölte Baum im Wald, die verfallene Scheune am Wegesrand oder das aufgelassene Industriegelände. Schönheit meint auch entdecken, erforschen, mit den Sinnen eindringen, den Dingen auf den Grund zu gehen. All diese Erfahrungen werden dann, eines Tages, in den Händen einer Künstlerin, eines Designers, einer Architektin vielleicht eingebettet in eine Skulptur, einen Gebrauchsgegenstand oder eine Behausung.
Der Architekt Peter Zumthor hat vor vielen Jahren in der Eifel eine kleine Kapelle gebaut. In einem Grundkurs des Entwerfens an einer Architekturfakultät wäre dieser Entwurf womöglich zerrrissen worden. Im Grundriss ein ungleichschenkliges, langgezogenes Fünfeck. Im Aufriss ein aus Stampfbeton hoch aufragender abweisender Betonquader. Die Zugangstür ein steiles spitzes Dreieck. Nichts lädt auf den ersten Blick ein, eher vermittelt das Gebäude hermetische Abgeschlossenheit. Ausgerechnet in der Eifel, dort wo die Deutschen in den 30er Jahren den Westwall aus Stahl und Beton errichtet haben, steht nun ein solches Gebäude. Das Wesen dieser Kapelle liegt jedoch in ihrer unvergleichlichen Eigenartigkeit. Dies betrifft sowohl ihre Entstehung als auch ihre Ausführung. Eine Landwirt mit seiner Frau hat die Kapelle gestiftet als Dank für das gute Leben, das sie führen durften. Den Architekten konnten sie gewinnen, weil dessen Mutter den Hl. Nikolaus von Kues verehrte. [QR CODE 3]
Entstanden ist ein Raum von unvergleichlicher Poesie, aus Stampfbeton auf einer verbrannten Schalung aus rohem Holz, einem Zinn-Bleiboden, einem Spiel von Licht und den Elementen: Feuer aus hunderten Kerzen, Wasser und Wind, die durch das in zwölf Metern Höhe angelegte offene Opaion im Dach eindringen. Die Kapelle von Peter Zumthor ist eine Höhle, eine gebaute Kindheitserinnerung, und darüber hinaus der Urort menschlicher Behausung.
Carlo Scarpa war ein italienischer Architekt und Designer, geboren 1906, gestorben 1978. Scarpa gehört zu denjenigen, die weltberühmt wurden, aber Zeit ihres Lebens nur wenig gebaut haben. Er betrieb nie ein großes Atelier mit einer Anzahl von Mitarbeitern. Dennoch war er für Generationen von Architekten und Designern Vorbild. Scarpas Architektur war stark beeinflusst von Frank Lloyd Wright und dessen Idee einer organischen Architektur. Fernöstliche Einflüsse finden sich ebenso in Carlo Scarpas Werk. Herausragend war seine akribische Material- und Detailarbeit. Ebenso wegweisend sind seine Architekturskizzen und Zeichnungen. Ein unvergleichliches Werk Scarpas ist gleichzeitig eines seiner letzten, der kleine Friedhof San Vito d’Altivole im Veneto. Dort sind er und seine Frau auch begraben. In der Gedenkstätte San Vito, errichtet im Auftrag von Onorina Tomasin-Brion, kumulieren die Ideen Scarpas auf das Eindrücklichste zu einem Gesamtkunstwerk. Raum, Material und Farbe, Licht und Schatten, Erde und Himmel, Wasser, sogar technisch-physikalische Prozesse wurden von ihm zu einer begehbaren Architekturskulptur verwoben. [QR CODE 4] So wie Tomas Sarazeno natürliche Prozesse und Bilder in sein Werk einflicht, so hat Scarpa in der Auseinandersetzung mit den Elementen und der Liebe zum Material einen ganz eigenen Kontext geschaffen. Ein Meisterwerk, geschaffen, der Schönheit zu dienen und der Vergänglichkeit zu huldigen. //
Bernhard Bramlage ist Architekt in Düsseldorf und Katholik.