Warum sind viele zeitgenössischen Operninszenierungen so öde, so wenig erbaulich? Es fehlt das Großartige, das Sinnliche, das Schöne.
Natürlich ist es nicht einfach, zu bestimmen, was „schön“ ist und was es mit der Schönheit auf sich hat. Das Definieren von „Schönheit“ wird gemeinhin der subjektiven Beurteilung überlassen. Schön ist was dem Betrachter, dem Hörer, dem Rezipienten gefällt.
Der Theologe Philipp Harnoncourt (1931–2020) sah das Schöne, gemeinsam mit dem Wahren und Guten in der Absolutheit Gottes verankert.
Das zustimmende Wohlgefallen, so Harnoncourt, ausgelöst durch das Wahrnehmen von etwas, das als schön empfunden wird, weise auf eine dem Menschen innewohnende Sehnsucht hin, Schönheit zu erfahren, und in dieser Erfahrung zu bleiben, selbst an der Schönheit zu partizipieren. „Verweile Augenblick, du bist so schön!“ lässt Goethe seinen Faust ausrufen.
Die offensichtlich unausrottbare Sehnsucht nach dem Schönen macht den Menschen verführbar, durch alles, was sich ihm als schön anbietet. Das erste Testament beschreibt die verführerische Seite der Schönheit: „Die Frau sah, dass es köstlich wäre, von dem Baum zu essen, und dass der Baum eine Augenweide war und dazu verlockte, klug zu werden (Gen3,6), und sie gab der Verführung nach.“
Der Hinweis auf die Vergänglichkeit aller Schönheit – „Trügerisch ist die Anmut, vergänglich alle Schönheit“ (Spr.30.31) nimmt ebenfalls Bezug auf die verführerische Seite der Schönheit.
Phillip Harnoncourt: „Der Blick auf bedrohende Verführung darf jedoch nicht blind dafür machen, dass der Lobpreis der Herrlichkeit Gottes und seiner Großtaten der Schönheit des Feierns bedarf, auch in maßloser Verschwendung und ohne jeden Nutzen. Die Gegenwart Gottes heiligt jeden Ort der Begegnung und fordert ein seiner Heiligkeit entsprechendes Verhalten.“
Der Lobpreis Gottes, in den die ganze Schöpfung einstimmt, nimmt alle Künste in Anspruch:
„Halleluja! Lobet Gott in seinem Heiligtum, lobt ihn mit Harfe und Zither, mit Pauken und Tanz, mit Flöten und Saitenspiel, mit hellen und klingenden Zimbeln! Alles, was atmet, lobet den Herrn. Halleluja! (Ps 150).“
Erst die Kirchenväter des Ostens sprechen ausdrücklich von der unendlichen Schönheit Gottes. Im Westen ist Augustinus (+430) der Begründer einer christlich-theologischen Ästhetik. Viele Lieder und Texte der mystischen Tradition besingen die Schönheit Jesu: „Schönster Herr Jesu“.
Die Schönheit Christi spiegelt sich auch in seinen Heiligen: „Ganz schön bist du, Jungfrau Maria“. Die prächtige Stadt, das neue Jerusalem, schön geschmückt wie eine Braut, steht für die Kirche. Die Schönheit in der Liturgie.
Phillip Harnoncourt: „Liturgie ist von ihrem Wesen her schön, denn sie partizipiert an der Form göttlicher Selbstmitteilung; sie ist ein inkarnatorisches Geschehen: göttlich schön und zugleich ohnmächtig und dürftig.“
Die Mystikerin Simone Weil (1909–1943) schrieb, nachdem sie in der Benediktinerabtei Solèsmes in der Karwoche alle Gottesdienste mitfeierte:
„Ich hatte bohrende Kopfschmerzen; jeder Ton schmerzte mich wie ein Schlag. Und da erlaubte mir eine äußerste Anstrengung der Aufmerksamkeit, aus diesem elenden Fleisch herauszutreten, es in seinem Winkel hingekauert allein leiden zu lassen und in der unerhörten Schönheit der Gesänge und Worte eine reine Freude zu finden.“
Einige Jahre zuvor hatte die geborene Jüdin über den Besuch einer katholischen Messe niedergeschrieben:
„Schönheit der Riten: Die Messe kann den Verstand nicht berühren, denn der Verstand erfasst nicht, worum es dabei geht. Sie ist vollkommen schön, von sinnlicher Schönheit, denn die Riten und Zeichen sind sinnlich wahrnehmbar, schön in der Art eines Kunstwerks.“
Besonders die gregorianischen Gesänge berühren sie tief. Für sie ist Liturgie „eine Schönheit, die weh tut, ein Schmerz, der kraft seiner unvermischten Reinheit besänftigt.“
Noch einmal Phillip Harnoncourt: „Das Kleid des Heiligen ist die Schönheit. Während aber Gottes Schönheit vollkommen ist, wird vom Menschen geschaffene Kunst, mag sie noch so gut sein, immer unvollkommen bleiben. Mein Bruder Nikolaus, der Dirigent, ist überzeugt, dass das Schöne in jeder Kunst immer auch defekt, unrein sein muss, sonst könnten wir es nicht ertragen.“
Dieser Aussage entspricht auch eine strenge Regel der Muslime: Gelänge es jemals, einen Teppich fehlerfrei zu knüpfen, so müsste noch ein Fehler eingefügt werden, denn nur Gott schafft Vollkommenes.
Liturgie ist von ihrem Wesen her schön, weil sie göttlich ist. Es ist uns aufgetragen, um eine schöne – nicht um eine gefällige oder attraktive – Liturgie besorgt zu sein. Erlebbare Schönheit öffnet den Zugang zum Himmel.
Quelle: Gottesdienst 11/2008