Mittwochabend vor Christi Himmelfahrt. Ein langes Wochenende mit viel Sonne steht bevor. Noch laufen unsere Arbeitsprojekte. Für die Kinder hat die Schule wieder begonnen: „Siehste. Ist doch alles gut geworden. Und dabei waren die Sorgen so groß. Vor Monaten.“ Ich hebe die Bierflasche.
Dann kommt eine Mail. Eine Anwältin. Ein Abmahnschreiben. Vorbei mit „gut geworden“, schon ist alles verpatzt. Ich senke die Bierflasche und merke, wie dunkel es inzwischen geworden ist. Sonnenuntergang verpasst. Ängste werfen Schatten.
Zwischen „gut“ und „schlecht“ liegt manchmal nur eine Sekunde. Ein schwarzer Abgrund. „Alles“ und „Nichts“. Totalitäten, die von unserer persönlichen Wahrnehmung abhängen und damit eingeschränkt wahr sind. Das echte „Alles“ ist oft größer als „unser Alles“. Und das echte Nichts viel kleiner, als unsere gefühlte Wahrnehmung. Weil eben nicht Alles oder Nichts gut oder schlecht sind. Sondern eben nur kleines bisschen etwas. Entscheidend für unsere Alltagsdeutung ist oft ein Erlebnis: Es krallt sich am Nasenrücken fest und bestimmt die Perspektive auf das, was ist.
„Es ist, was ist“, beteuern wir uns oft gegenseitig. Und: „Ist doch alles noch gut geworden.“ Ohne zu ahnen, was denn ist, was ist. In seiner Tiefe. Komplexität. Seiner Widersprüchlichkeit und Dynamik. Vielleicht sind moralische Bewertungen für die großen Fragen des Lebens, des Daseins, zu klein. Nicht zielführend, weil für uns Menschen die Gewissheit über das, was hinter dem ist „was ist“, fehlt. Die Transzendenz: Eine Mutmaßung. Gut und schlecht bleiben damit als Bewertungskriterien an mir selbst hängen. Anselm Grün schreibt, dass das vermeintlich Schlechte, was uns widerfährt, angesichts der eigenen Sterblichkeit klein wird und sich manchmal in Luft auflöst. Mit dem Guten verhält es sich damit ebenso. Angesichts des Todes ist alles nichts. Im Leben ist Kleines oft Alles.
Die Abmahnmail brennt auf meinem Monitor. Im Fernsehen läuft ein alter Bollywood-Schinken: Om Shanti Om. Die Geschichte eines Schauspielers, der mit ansehen muss, wie seine große Liebe getötet wird und der ihren Mörder nach erfolgter Wiedergeburt rächt. Karma nennen das die Hinduisten. Ein Gefühl von Gerechtigkeit und innerer Freude: Jeder bekommt, was er verdient. Spirituelle Buchhaltung: Himmel und Hölle. Das kennen wir auch. Der Film schließt mit einem Abschlusssatz: „Wenn eine Geschichte kein gutes Ende hat, dann ist es nicht das Ende.“ Oder anders ausgedrückt: Alles wird gut. Wieder einmal. Wenn nicht jetzt, dann irgendwann. Das gefällt mir. Wenn ich es aktuell nicht schaffe, meiner Gegenwart auch nur einen Milligramm Gutheit abzugewinnen, dann kann es mir in Zukunft gelingen. Sei es, dass sich die Umstände verändern. Oder meine Einstellung.
Alles wird gut: Das klingt wie ein Kalender- oder Postkartenspruch. Vielleicht haben ihn mir meine Eltern abends nach einem für mich traurigen Tag ins Ohr geflüstert. Vielleicht war es auch die Gruppenleiterin im Kindergottesdienst: „Jesus ist für dich gestorben. Du hast nichts mehr zu befürchten.“ Die Sache ist bereits geklärt, auch wenn du es selbst noch nicht wahrnehmen kannst oder willst. Einfach: Loslassen und abgeben. Würden Lebensberater jetzt sagen.
Als Kind hat das wunderbar funktioniert. Mein Vater pflegte zu sagen: „So lange etwas mit Geld zu bezahlen ist, ist es halb so schlimm. Das lässt sich regeln.“ Er wusste: Wenn es um Körper, Krankheit und Zwischenmenschliches ging, war das mit dem Kitten nicht mehr so leicht. Jetzt bin ich selbst Vater und ahne, was er meinte, mit dem Geld und anderen Dingen. Dass alles gut wird, dafür sind schon lange nicht mehr meine Eltern zuständig. Vielmehr ist es meine eigene Aufgabe, das für mich und meine Familie in die Hand zu nehmen. Besonders für meine eigenen Kinder.
Alles wird gut: Es ist das Zukünftige in dem Versprechen, das mich von der Last des Augenblicks befreit und Möglichkeiten eröffnet. Neue Hoffnung keimt auf. Sei die Dunkelheit auch noch so groß. Ich selbst kann etwas tun, andere können etwas tun. Gott kann etwas tun. Und wenn es nur in der Akzeptanz liegt: Dass es ist, wie es ist. Ich muss es nicht mögen. Ich kann daran leiden. Schreien. Verzweifeln. Aber es ist nicht das Ende, absolut gesehen.
Dafür muss ich nicht mal an Gott, Jesus Christus und das Heilsversprechen glauben. Die gefühlten „kleinen Enden“ gehen auf in einem großen Ende. Wann auch immer das kommen mag. Angesichts der Endlosigkeit steht dann ein neuer Anfang vor der Tür. Das ist kein Glaube. Das ist Gewissheit. Alles wird gut – dafür kann ich etwas tun, eigentlich alles, außer verzweifeln. Ich bin kein Opfer. Ich bin nicht allein. Sondern mächtig. Mit allem, was da ist. Real und Transzendent. Und das. Das ist doch gut so, oder? //