von Brigitte Haertel
In ein paar Tagen wird sie siebzig, und sie kann kaum glauben, dass die Tragödie 47 Jahre zurückliegt. Und eigentlich will sie über all das nicht mehr reden.
„Ach, der alte Kram, alles x-mal auserzählt“, sagt sie und winkt ab, um doch wieder einzugehen auf all die Fragen rund um das Trauma ihres Lebens. Weil es in ihrer Seele steckt, in ihrer DNA, unauslöschbar, für immer.
„Wenn ich diese Welt verlasse, werde ich den Job des Schutzengels übernehmen. Ich denke, dass ich dafür gut geeignet bin“, sagt sie mit einem warmen Lachen. „Vor allem, da ich eine eigene Staffel von geflügelten Wesen geschaffen habe, die für mich arbeiten.“ Sie blickt auf eine ihrer Holzskulpturen in der Ecke des Wohnraums, die zur Werkgruppe ihrer „Wächter“ gehört.
Alles im Haus gibt Auskunft über eine Sammlerin: Kunst und Fotografien, Pflanzen, Steine, Souvenirs, einträchtig versammelt. Sie sind belebt, diese Räume, spiegeln, wie auch der Garten, das Wesen der Bewohnerin: Wildes, Ungezähmtes kommt zum Vorschein.
Das Gespräch am Tisch landet schnell im Jahr 1977: Nichts weist auf eine Tragödie hin, als die damals 23-jährige Stewardess an einem herbstlichen Vormittag von Frankfurt aus losfliegt nach Palma de Mallorca. Zu Hause ist ihr Kühlschrank gut gefüllt. Am Abend wird sie zurück sein und für sich und ihren Liebsten, den damaligen Co-Piloten Rüdeger von Lutzau, Zürcher Geschnetzeltes zubereiten. Glaubt sie.
Während des Rückflugs bringen über dem französischen Luftraum zwei Männer und zwei Frauen das Flugzeug mit Pistolen und Handgranaten in ihre Gewalt. Sie zwingen die Piloten, die Maschine umzuleiten nach Zypern. Der Treibstoff reicht nicht, und so müssen die Männer im Cockpit nach Rom ausweichen. Dort wird das Flugzeug aufgetankt, der Anführer, der 23-jährige Zouhair Youssif Akache, der sich selbst „Kapitän Märtyrer Mahmud“ nennt, verkündet seine Forderung: Die Freilassung von 11 in Deutschland inhaftierten RAF-Terroristen. Im Monat zuvor hatten Gesinnungsgenossen den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer entführt, um die Inhaftierten freizupressen.
Für die Passagiere an Bord der „Landshut“ beginnt ein Martyrium mit etlichen Zwischenstopps und ungewissem Ausgang. „Kapitän Mahmud“ verlangt, ein Mikro in der Hand, drohend nach einem Übersetzer. Eine der zwei weiteren Stewardessen an Bord verstummt augenblicklich, fällt in sich zusammen, die andere zittert am ganzen Leib, spricht kaum Englisch.
Da meldet sich Gabriele Dillmann.
„Gern habe ich es nicht getan. Natürlich hatte ich Angst. Man kann seinen Job machen und trotzdem Angst haben.“
Und nach einer kurzen Pause:
„Da wird man auf diese Welt geworfen und ich glaube, man hat eine Aufgabe, und das war vermutlich meine Aufgabe.“ Ihr Gesicht wird zu einem Ausrufezeichen.
Hört man ihr eine Weile zu, beobachtet ihre Mimik und Körpersprache, glaubt man sofort, nein weiß man, dass sie damals in den dramatischen Stunden für all die Mitleidenden an Bord eine Stütze war.
„Gabi war für uns die Rettung, sie war immer in der Lage, uns zu beruhigen und hat uns Infos zugesteckt“, erzählte Diana Müll, damals Passagierin auf der „Landshut“, kürzlich einem Reporter des SZ-Magazins. Gabriele von Lutzau ergänzte: „Es war unter Todesstrafe verboten, mit den Passagieren zu sprechen. Ich hab’ gedacht, pff“.
Auf dem Flughafen in Dubai steht die Maschine drei Tage in der prallen Sonne. Die Klimaanlage fällt aus, im Innern der Maschine werden es bis zu 50 Grad, aus den Toiletten dringt beißender Gestank. Co-Pilot Jürgen Vietor bringt die Klimaanlage wieder zum Laufen, irgendwie.
In Aden, Jemen erschießen die Terroristen den Flugkapitän Jürgen Schumann vor den Augen der Passagiere und drohen, die Maschine in die Luft zu sprengen, sollten ihre Forderungen nicht erfüllt werden. Anführer „Mahmud“ entpuppt sich als Sadist, der vor allem die jungen Frauen an Bord nach Lust und Laune vor sich niederknien lässt, sie ohrfeigt und ihnen die Pistole an die Schläfe hält.
Auch Gabriele Dillmann ohrfeigt er, sie muss vor ihm niederknien: „Er schrie und beschimpfte mich als dreckige Jüdin, da habe ich wütend zu ihm aufgesehen und ihn angezischt: ‚I am not Jewisch, I am Protestant.’ Da schickte er mich fort. Araber verstehen nur Stärke“, sinniert sie in den Nachmittag hinein.
Nach fünf Tagen des Grauens landet die Maschine in Mogadischu. Die Bundesregierung geht zum Schein auf die Forderungen der Terroristen ein, um Zeit zu gewinnen. In der Nacht zum
18. Oktober stürmt eine Einheit der GSG 9 die „Landshut“, erschießt drei von vier Geiselnehmern und befreit alle Passagiere.
Von diesem Kommando konnte niemand in der Maschine etwas ahnen, auch nicht Gabriele Dillmann, die zuvor noch per Funk ihren verzweifelten Appell an Kanzler Helmut Schmidt gerichtet hatte: „Ich möchte sagen, dass es das Versagen der deutschen Regierung ist, dass wir sterben müssen. Bitte sagen Sie meinem Freund, dass ich ihn sehr liebe und sagen sie meiner Familie, dass ich sie liebe.“
Ihr Freund, der Pilot, ist da bereits auf dem Weg nach Mogadischu. Nach der Befreiung geht sie als Einzige verletzt von Bord. Im letzten Moment hatte ein Terrorist eine selbstgebastelte Handgranate geworfen, die neben ihr explodierte: „Das hat mir mein Bein und meinen Rücken zerfetzt, monatelang hat es da herausgeeitert.“
Noch im selben Jahr wird sie mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland geehrt, ihr Freund, Rüdeger von Lutzau, macht ihr noch am Flughafen Mogadischu einen Heiratsantrag.
Sie sagt „Ja“, will nicht mehr fliegen, obwohl sie so gern Stewardess war: „Gleich nach meinem Abitur ging die Fliegerei los. Es war herrlich unbeschwert, und es ist die beste Schule für eine junge Frau: man bekommt eine Selbstsicherheit im Umgang mit Menschen und vielleicht lernt man auch Verantwortung zu übernehmen.“
Die habe sie schon vorher gehabt, sie sei eine Kümmererin, ergänzt sie noch.
War womöglich eine glückliche Kindheit die Ursache für so so viel Energie und Verantwortung?
Nein, damit kann Gabriele von Lutzau nicht dienen. „Meine Mutter war Mannequin, ein IT-Girl in den sechziger Jahren, drei Mal hat sie sich scheiden lassen, Ich durfte sie nicht umarmen, weil sonst ihre Frisur durcheinander geraten wäre.“
Sie sagt es ohne Bitterkeit, eher amüsiert.
Als Kind wuchs sie bei zwei Großmüttern auf. Heute kann sie ihrer wenig freudvollen Kindheit sogar etwas abgewinnen: „Resilienz entwickelt man, wenn man kämpfen muss und nicht, wenn man pausenlos gepampert wird. Ich schmeiße mich vor alle. Daran kann ich gar nichts ändern.“
Nach ihrer Hochzeit bekam sie einen Sohn und später noch eine Tochter. Es begann ein anderes Leben. Dass ihr Mann als Flugkapitän viel unterwegs war, kam ihrem Freiheitsbedürfnis entgegen.
War es ein schönes Leben für sie?
Da muss sie nicht lange nachdenken.
„Mein Leben war kein langer, ruhiger Fluß.“
Noch Jahrzehnte nach der Entführung quälten sie Albträume, posttraumatische Belastungsstörungen wie es so heißt. Klar, mit so etwas hat man nie abgeschlossen.
Bei der Geburt ihres Sohnes sei sie fast gestorben, und sieben Jahre nach der „Landshut“ mit ihrer Familie in Neuseeland schwer verunglückt.
„Damals haben wir viele Fernreisen gemacht, privat bin ich konsequent weitergeflogen. Schon aus Trotz. In Neuseeland sind wir mit dem Auto 10 Meter einen Abhang runtergeschleudert worden, haben uns überschlagen. Mein kleiner Sohn, mein Mann, alle waren wir verletzt. Ich habe im Krankenhaus wochenlang um mein Leben gekämpft; Wirbelbrüche, eingefallene Lunge, die Beweglichkeit meines Handgelenks ist bis heute eingeschränkt.“
Sie atmet tief durch, lächelt:
„Der liebe Gott bürdet einem nicht mehr auf, als man imstande ist zu tragen. Ich habe trotz allem eine Sonne im Herzen.“
Mit sechzig trübte eine Brustkrebs-Diagnose diese Sonne ein, vor drei Jahren musste sie ihren Mann beerdigen – nach über 40-jähriger Ehe. Wieviel Kummer und Schmerz kann ein Mensch ertragen?
Das würde sie sich selbst womöglich gar nicht fragen.
„Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott,“ ist seit langem zu einer ihrer Lebens
maximen geworden. Wie zur Bestätigung zeigt sie, glucksend vor Glück, ein Foto ihrer sechs Monate alten Enkeltochter Charlotte: „Ist sie nicht süß?“
Es ist Abend geworden im friedlichen Michelstädter Haus, doch die Geschehnisse von damals hängen noch lange im Raum. Gabriele von Lutzau sieht wieder hinüber zu ihrer wachenden Holzskulptur. Das Atelier im Souterrain, besonders aber ihr riesiges Lager ein paar Kilometer weiter beherbergen noch etliche dieser imposanten Wesen. Knorrige Baumwurzeln und meterhohe Thuja-Stämme erzählen von der couragierten Arbeit einer Bildhauerin. Aus diesem Holz erschafft sie die Skulpturen, die leise und gleichzeitig laut in die Welt wollen. Mit Kettensägen und Flammenwerfern rückt Gabriele von Lutzau dem Holz zu Leibe, mit dem Feuer schwärzt sie es. Eine Gratwanderung zwischen Färben und Verbrennen, zwischen Skulptur und Asche, heißt es in ihrem Katalog.
Am 11. September 2001 hatten ihre Skulpturen die Farbe verloren, von da an wurden sie schwarz. „Ich habe die Menschen in New York aus dem Fenster springen sehen in einem letzten, selbstbestimmten Akt. Und ich fing an, die Flügel zu machen.“
Sie erinnern an Engel oder an mythologische Wesen aus der Antike. „Cherubin und Seraphin bestanden nur aus Flügeln,“ sagt sie. „Es sind gute Geister. Ich setzte dem Bösen in der Welt das Gute entgegen, ganz konsequent.“
In vielen Jahren sind mehrere Werkgruppen entstanden, die Lebenszeichen heißen oder Seelenvögel, letztere auch zu verstehen als Mittler zwischen der Welt der Lebenden und der Toten. Im Andenken an die Opfer des norwegischen Massenmörders Anders Breivek, der 2011 auf der Insel Utoya 77 junge Menschen tötete, schuf Gabriele von Lutzau 77 „Seelenvögel“, von denen einige auf der Art Karlsruhe zu sehen waren.
Bei Walter Piesch, damals Kunstprofessor in Straßburg, hat sie über Jahre das „Bildhauern“ erlernt. „Holz ist ein lebendiger Werkstoff, gefangene Energie, der versuche ich in der Bildhauerei nachzuspüren. Oft habe ich eine Art Geflatter in meinem Kopf. Dann kriegen die Flügel Strukturen, ich breche sie auf, und denke, gleich fliegen sie los.“
Es war die Kunst, die ihr über das Trauma ihres Lebens hinweggeholfen hat. Ihre Arbeiten sind seit langem auf internationalen Ausstellungen, aber auch als „Kunst im öffentlichen Raum“ zu sehen. Sehr gern stellt sie in Kirchen aus, ein vertrautes Terrain für sie. Seit Generationen ist die Familie evangelisch, sie zudem mit katholischer Musikalität gesegnet, obgleich sie selbstverständlich mit dem „Bodenpersonal“ gern ins Gericht geht.
„Ich glaube an das große Ganze, an die allumfassende Liebe.“
Gabriele von Lutzau vereint viele Eigenschaften in sich: Sie ist direkt, ohne Pose, ihre Bodenständigkeit paart sich mit Feingefühl. Das macht sie zu einer angenehmen und höchst lebendigen Gesprächspartnerin. Gern auch für alte Bekannte. Um die „Landshut“, die eigentlich verschrottet werden sollte, jetzt aber in einem Friedrichshafener Hangar steht, hat sich seit vielen Jahren ein kleiner Freundeskreis gebildet: Da ist der damalige Co-Pilot Jürgen Vietor, heute 82, Diana Müll, 66, die damals auf Mallorca zur Schönheitskönigin gekürt worden war, Aribert Martin, 68, ehemaliger GSG 9-Kämpfer und sie, Gabriele von Lutzau. Man trifft sich privat, tritt aber auch schon mal gemeinsam bei Veranstaltungen auf. Ehrenamtlich versteht sich.
Für die „Landshut“ findet Gabriele von Lutzau noch immer warme Worte.
„Sie ist meine alte Freundin, ich streichele sie gern. Die Chance, dass sie das alles durchhält, obwohl die Triebwerke so heiß wurden, dass sie weiterfliegt, ohne in der Luft zu explodieren, war damals sehr gering. Bei der Notlandung neben der Piste wurde beim Umkehrschluss so viel Staub und Dreck in die Triebwerke gesaugt, dass ihr Durchhalten ein echtes Wunder ist.“
Durchhalten, ein Wort, das ihr Leben prägte.
„Ich freue mich darüber, dass ich noch da bin,“ sagt Gabriele von Lutzau ganz zum Schluss. //