Foto: Stephan Rudolph-Kramer

Bodo Janssen hielt sich für einen Topmanager – bis seine Mitarbeiter ihn absetzen wollten. Wozu bin ich überhaupt da, fragte er sich. Antworten suchte er im Kloster. Dort begann eine Glücksgeschichte für ihn – und auch für sein Unternehmen „Upstalsboom“.

Stille Revolution

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3/2024

Bodo Janssen hat einen Kartoffelschäler in der Tasche. Wenn er in seinen Hotels unterwegs ist, geht er in die Küche und stellt sich dazu. Während die Schalen durch seine Finger gleiten, redet er mit seinen Mitarbeitern. Fragt sie, wie es ihnen geht und was ihnen wichtig ist. Die Fragen gehen ihm nicht aus. Während die Kartoffeln in seiner Hand goldgelb werden, denkt er laut mit den Angestellten. Früher wäre das für Bodo Janssen Zeitverschwendung gewesen. Das ist noch gar nicht lange her. Da hielt er sich für einen Topmanager.

Plötzlich Chef

Bodo Janssen, Jahrgang 1974, ist Ostfriese und Chef des Familienunternehmens Upstalsboom mit 70 Hotels und Ferienwohnanlagen an der Nord- und Ostsee und mehr als 650 Mitarbeitern. Chef wurde er im Jahr 2007, von einem Tag auf den anderen, mit gerade mal 33 Jahren, als sein Vater mit seinem Flugzeug abstürzte. Zwei Jahre hatte Janssen zusammen mit ihm in der Upstalsboom-Zentrale in Emden gearbeitet und sich dennoch eine Hintertür in ein eigenes Sport- und Freizeitunternehmen offen gehalten. „Aber als ich aus dem Aufbewahrungsraum kam, in dem mein verstorbener Vater lag, hatte ich mich entschieden – und ein Ziel.“ Er wollte das Familienunternehmen, das wirtschaftlich in einer Krise steckte, wieder aufbauen. 

Mit den Zahlen ging es tatsächlich bald aufwärts. Aber gleichzeitig breitete sich eine ständige Unruhe im Unternehmen aus: Seine Mitarbeiter wurden immer häufiger krank und kündigten. Bewerbungen gingen gleichzeitig mehr und mehr zurück. Dann bekam es er schriftlich: „Wir brauchen einen anderen Chef als Bodo Janssen!“ war das Ergebnis einer Mitarbeiterbefragung im Jahr 2010. Diese Worte, schwarz auf weiß! Der Top-Manager war mit einem Satz abgesetzt. Janssens Herz raste, das Adrenalin stieg ihm in die Schläfen. Dann wurden bange Fragen in ihm laut: Wozu bin ich da? Wofür lebe ich eigentlich? 

Die Fragen des Paters

Die Fragen suchten nach Antwort. Dabei las Bodo Janssen etwas von Anselm Grün. Von dem Benediktiner-Pater hatte er schon gehört. Er ging zu ihm in das Kloster Münsterschwarzach. Aus einem geplanten dreitägigen Führungskräfte-Seminar wurden schließlich eineinhalb Jahre, in denen er immer wieder in der Stille meditierte und sich von Grün biblische Geschichten aufschlüsseln ließ: „Er transportierte sie so, dass ich verstehen konnte, worum es ging. Zum Beispiel die Geschichte von Martha und Maria, die davon handelt, den Menschen, denen ich begegne, nicht das aufzudrücken, wovon ich überzeugt bin, sondern erst mal hinzuhören und zu fragen: Was brauchst du? Das lebt Pater Anselm auch. Er hat mir einfach Fragen gestellt, durch die ich meine Antworten finden konnte.“

Vier Aussagen des Paters berührten Bodo Janssen so stark, dass es ihn wieder und wieder ins Kloster zog. Erstens: Führung ist Dienstleistung und kein Privileg. Zweitens: Wer fragt, führt. Drittens: Die Reflexion ist produktiver als die Aktion. Viertens: Nur wer sich selbst führen kann, kann andere führen. 

Als Bodo Janssen auf einem kleinen Meditationshocker kniete, ging ihm auf, dass er gar nicht wusste, was er mit seinem Leben machen wollte: „Ich kannte meine Prioritäten nicht. Deshalb konnte ich mich und andere auch nicht führen.“ Seitdem begleitet ihn die Frage: „Wofür stehe ich jeden Morgen auf?“ Über sie denkt er gerne nach, wenn er heute auf seinem eigenen Meditationshocker kniet, den er stets im Kofferraum dabei hat. Es ist jene Frage, mit der er nach seiner Klosterzeit auch einen Kulturwandel in seinem Unternehmen anstieß, der heute als „Upstalsboom-Weg“ bekannt ist. 

Der Sehnsucht gefolgt

Nur vier Jahre nach der verheerenden Mitarbeiterbefragung wurde Upstalsboom 2014 zum Top Arbeitgeber gewählt und Bodo Janssen mit weiteren Unternehmerpreisen ausgezeichnet. Eine unglaubliche Erfolgsgeschichte – auch in Zahlen: Upstalsboom verdoppelte seinen Umsatz, die Zufriedenheit der Mitarbeiter stieg um 80%, die Gästezufriedenheit auf nahezu 100%. 

Janssen beschreibt diesen Wandel als „Stille Revolution“, die als Buch ein Bestseller geworden ist und im Frühling auch als Kinofilm über die Leinwand flimmerte. Aber vor allem ist es eine Sehnsuchtsgeschichte: „Nichts von dem, was entstanden ist, war unser Ziel. Nichts davon war geplant. Ich wurde geleitet durch eine Sehnsucht, die sich in mir im Laufe der Klosterzeit entwickelt hatte. Das war die Sehnsucht, Menschen dabei zu unterstützen, sich so zufrieden zu fühlen, wie ich es dort erfahren habe. Weil ich meinen inneren Kompass ausgerichtet hatte, wusste ich plötzlich, wofür ich jeden Morgen aufstehe. Dadurch entstand ein großes Freiheitsgefühl. Ich war frei von äußeren Zwängen. Als mir das auf einmal bewusst geworden ist, wollte ich es meinen Mitarbeitern auch möglich machen – ohne zu wissen wie. Das war der Start.“

Bodo Janssen lud seine Mitarbeiter ins Kloster ein und entwickelte mit ihnen Werte, die seitdem ihre gemeinsame Unternehmung halten und leiten. Gemeinsame Unternehmung, das ist ihm wichtig. Denn seine Mitarbeiter entscheiden auf allen Ebenen mit: Sie können ihr Gehalt sowie ihre Arbeitszeit selbst bestimmen und womit sie sich täglich beschäftigen. Das ereignet sich in Teams, Workshops und Werkstätten, die von den Mitarbeitern ausgehen. „Wir arbeiten holokratisch, also eigenständig und selbstbestimmt. Jeder soll die Freiheit haben, sich persönlich weiterzuentwickeln. Wertschätzung ist für uns dabei ein wesentlicher Wert. Wir fragen uns häufig, wie wir auch das vermeintlich Selbstverständliche wertschätzen können. Das geht aber nur, indem wir den Menschen wertschätzen und nicht nur das Ergebnis.“

Bodo Janssen will seine Mitarbeiter nicht mehr vor vollendete Tatsachen stellen. Das fände er respektlos. „Ich öffne mich in Gesprächen mit meinen Mitarbeitern persönlich. Ich gehe mit der Haltung und der Frage ran: Was kann ich heute von dir lernen? Nur wenn ich meinen Mitarbeitern Fragen stelle, können sie sich beteiligen und das ausleben, was ihnen wichtig ist. Wenn sie das tun, sind sie stark.“

Schnell sagt er das. Mit unverstellter und unausgeleierter Begeisterung, obwohl er seine Geschichte häufig erzählt hat. Denn mit der Upstalsboom-Geschichte sind er und seine Mitarbeiter inzwischen europaweit unterwegs und geben weiter, wie sie umgedacht haben. Immer mehr Menschen kommen auch zu den Curricula und Workshops in die Zentrale nach Emden.

Typ der Extreme

Wenn Bodo Janssen versucht, den persönlichen Prozess zu beschreiben, betont er die Worte „gelingende Beziehungen“. Die sind für ihn der Kern seines Wandels: „Im Gespräch mit Anselm Grün ist mir bewusst geworden, dass es in der Bibel von der ersten bis zur letzten Seite um gelingende Beziehungen geht. Um die gelingende Beziehung zu Gott und des Menschen zu seinen Mitmenschen. Und auch um die gelingende Beziehung zu den Dingen.“

Früher drehte sich Janssens Leben vor allem um Dinge. Ein Jetset-Leben. Äußerlich und gerne grenzenlos. 1998 machte er dann eine traumatische Grenzerfahrung: mit 24 Jahren wurde der Millionärssohn entführt. Erst nach acht Tagen, an denen die Kidnapper ihn mit Scheinhinrichtungen folterten, konnte er befreit werden. Jedes Mal, wenn sie ihm die Pistole an die Schläfe drückten, verabschiedete er sich von seinem Leben, ließ alles los. 

In der Zeit danach verausgabte er sich noch mehr, feierte und arbeitete exzessiv. Parallel zu seinem BWL- und Sinologiestudium zog er ein Sport- und Freizeitunternehmen hoch. Er sei ein Typ der Extreme, sagt er. Aber auch ein Typ, der sich verankert. In Ostfriesland zum Beispiel, wo er sich am liebsten mit seiner Familie in der Küche beim Müsli am Morgen unterhält oder beim gemütlichen Abendessen, zu dem häufig seine Schwiegereltern vorbeikommen. Mit seinen drei Kindern das zu machen, was ihnen wichtig ist, das ist für ihn Glück. Und seine Frau Claudia, die er 2006 heiratete und mit der er so gerne „Rotwein- und Blaumanngespräche“ führt. Heute sagt sie manchmal ironisch: „Ich habe einen Saulus geheiratet und bin nun mit einem Paulus zusammen.“ Wenn im Alltagstrubel mal wieder sein Autopilot anspringt, stupst Claudia ihn an: „Geh mal wieder auf die Meditationsbank.“ Dann wird es Zeit für Stille. „Ich horche in mich hinein und höre, was da kommt. Mittelbar bedeutet das für mich, dass Gott dort zu mir spricht. Gott drückt sich in mir so aus, wie er mich gewollt hat.“

Glück liegt in der Luft

Bodo Janssen will Glücksgeschichten erleben. „Ich will mich dafür einsetzen, dass Menschen glücklicher werden. Ich weiß, dass ich niemanden glücklich machen kann, aber ich kann Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass Menschen finden, was sie zufrieden macht.“ So, wie ein Mitarbeiter, der als Spüler bei Upstalsboom arbeitete und mit dem Bodo Janssen mal in der Hotelküche klönte. Einige Zeit später bekam er einen Fotokalender zugeschickt, den der Mitarbeiter als Geschenk für seine Familie selbst geknipst hatte, und eben für auch ihn. Janssen hängte den Kalender in seinem Büro auf. Ein Jahr später bekam er einen neuen Kalender – diesmal waren die Motive phänomenal. Janssen zeigte die Fotos einem Mitarbeiter aus dem Kommunikationsteam, der auch begeistert war. Nun macht der ehemalige Spüler auch Bilder für Upstalsboom.

Solche Erlebnisse möchte Janssen später seinen Enkeln erzählen. „Es gibt dieses innere Bild, das ich nicht nur sehen, sondern auch hören, riechen und fühlen kann. Das beschreibt mich in gut 35 Jahren in unserem Friesenhaus im Ohrensessel sitzend. Auf dem Schoß die Enkelkinder, denen ich eine Geschichte von glücklichen Menschen erzähle.“ 

Auch Abenteuer gehören zu Bodo Janssens Glück dazu. Er unternimmt mit seinen Auszubildenden eine „Tour des Lebens“ auf den Kilimandscharo. Er baut mit Mitarbeitern Schulen in Ruanda. Oder er unterstützt ein junges Team auf der Insel Föhr, „eines der größten Hotelprojekte, die es gerade in Deutschland gibt“ auf die Beine zu stellen. Doch Bodo Janssens Kulturwandel hat noch längst nicht alle „Upstalsboomer“ erreicht. „Alle Mitarbeiter erreicht man nie. Ein solches Ziel wäre utopisch. Dann wird man Sklave eines zu hohen Anspruchs. Aber wenn wir die Hälfte erreicht haben, haben wir schon sehr viel geschafft. Und dann geht es weiter.“ 

Bodo Janssen will noch weiter gehen: Upstalsboom ist gerade auf dem Weg zur Stiftung und unterwegs zu Ausbildungsstätten des Hotel- und Gastronomiegewerbes. Dort würde Janssen gerne ein neues Denken anstoßen: Weg von einer Bildung, die Menschen normiert, hin zu einer Bildung, die auf Persönlichkeiten setzt. Das hat er jetzt mal laut gedacht, obwohl noch viele Fragen offen sind. Aber vielleicht liegt da eine weitere Glücksgeschichte in der Luft.  //