von Brigitte Haertel
Es war vor vielen Jahren, als anlässlich eines Interviews die Erkenntnis einer Ärztin mein Innerstes bewegte, und die ich seither nie mehr vergessen habe: Sie war schon Ruheständlerin, arbeitete sechs Monate im Jahr als Ärztin ohne Grenzen in Afrika, ich glaube sie war abwechselnd im Sudan und in Äthiopien.
„Wenn ich nach einem halben Jahr zurückkehre und am Flughafen Frankfurt lande“, erzählte sie lächelnd „kann ich nicht aufhören, mich über die grauen Gesichter der Menschen hier zu wundern.“
Sie sprach noch einige Zeit über die Lebensbedingungen der Afrikaner: „Hirse, drei mal am Tag essen sie Hirse, sonst nichts, aber sie lachen, singen und tanzen immerzu.“
Seit diesem Interview frage ich mich, was uns hierzulande und womöglich den meisten Wohlstandsmenschen zum Lebensglück fehlt.
Ist es der Überfluss, der uns davon abhält? Wenn es normal ist, dass die Regale in den Supermärkten sich biegen, lässt dieses Phänomen sich nicht mehr als solches wahrnehmen, sondern weckt eher Überdruss und Langeweile.
Haben wir uns zu weit von der Natur entfernt? Wenn wir uns nicht als Teil der Schöpfung begreifen, sondern uns von ihr bedroht fühlen, schürt das Ängste und lässt uns die Erde als Jammertal wahrnehmen.
Vergleichen wir uns zu viel mit anderen? Nichts lässt die Frustration rascher hochschnellen als der Blick auf besser gestellte oder erfolgreichere Menschen. Aber nichts ist auch gefährlicher für uns.
Leben wir zu viel in Zukunft und Vergangenheit und zu wenig in der Gegenwart? Wer sich sein Leben von seinem Terminkalender diktieren lässt und die Schönheit des Augenblicks nicht bewusst wahrnimmt, hat vermutlich weniger vom Leben.
Womöglich sind es all diese Faktoren zusammen, die die grauen und langen Gesichter an Flughäfen und in Fußgängerzonen zu verantworten haben.
Die vereinten Nationen weisen darauf hin, dass die Art, wie Menschen Glück und Wohlbefinden verstehen, von Kultur zu Kultur verschieden ist und sich unterschiedlich manifestiert. Glück und Unglück sind relative Kategorien. Zählt in kollektivistischen Gesellschaften das Glück der Gemeinschaft, ist es in westlichen, individualistischen Gesellschaften das Glück des Einzelnen. In Leistungsgesellschaften besteht die Gefahr, das persönliche Glück wie einen Preis zu betrachten, den man sich erarbeiten kann.
Dummerweise ist dem nicht so: Das Leben ist polar organisiert, fragen Sie mich nicht warum.
Es bewegt sich zwischen Gegensätzen: Erfolg und Misserfolg, Freude und Schmerz, Beharrung und Veränderung, Zufriedenheit und Unzufriedenheit. Wenn wir das nicht akzeptieren, wenn wir um jeden Preis immer glücklich sein wollen, ist dies der direkte Weg ins Unglück. Der Philosoph Arthur Schopenhauer war sicher: „Es gibt nur einen angeborenen Irrtum, und es ist der, dass wir da sind, um glücklich zu sein.“
Dennoch gesteht die amerikanische Verfassung ihren Bürgern ein Grundrecht zu, ein Recht auf „The pursuit of happniness“, also ein Streben nach dem Glück.
Und genau hier scheint eine Falle zu lauern: Die moderne Glücksforschung ist sich einig: wer glücklich sein will, darf dem Glück nicht nachjagen. Der zwanghaften Glückssuche zu entsagen erfordert Mut, kann sich aber nachhaltig auszahlen. Wer sich hingegen am Sinn orientiert und weiß, wofür er lebt, erreicht am ehesten einen, nennen wir ihn beglückenden Zustand.
Glücksfaktor Geld: er beschäftigt seit langem Soziologen und die Forschung: In materieller Sicherheit zu leben kann das Lebensglück fördern, langfristig kommt es darauf an, was wir mit Geld machen. Glücksfunken sprühen, wenn es segensreich wirkt, also anderen zugutekommt.
Womöglich ist der Begriff „Glück“ sowieso irreführend, denn reden wir vom Glück, meinen wir eigentlich Zufriedenheit. Während das Glück gern in einer Laune über die Seele hüpft und sich schnell wieder verflüchtigt, hockt die Zufriedenheit behaglich und beständig auf dem Seelensofa.
Wenn viele Afrikaner trotz ihrer eingeschränkten, materiellen Möglichkeiten sich Tag für Tag des Lebens freuen, hat es auch damit zu tun, dass sie viel religiöser, viel tiefer in ihrem Glauben verwurzelt sind als wir. Eine Nichte von mir ist vor Jahren als Politikwissenschaftlerin nach Namibia gegangen, um ein Entwicklungsprojekt zu leiten. Sie ist nur noch einmal nach Deutschland zurückgekehrt, um ihre sieben Sachen zu packen.
Ja, sie hat dort ihr Glück und zu ihrem Glauben zurückgefunden, erfreut sich an der überbordenden Lebenslust der Menschen im Alltag.
Singen und Tanzen sind schon mal Kategorien, die uns verlorengegangen sind. Als lebendiger Ausdruck von Wohlbefinden täten wir gut daran, sie wieder zu entdecken.
Was fehlt Ihnen zum Glück? fragte einst Max Frisch in seinem berühmten „Fragebogen“.
Wer kann schon darauf eine belastbare Antwort geben. Glück bedeutet für jeden etwas anderes. Womöglich sind auch die unterschiedlichen Lebensphasen entscheidend: Während junge Menschen vom „Glück“ träumen, das sie mit prickelnden, das Ego streichelnden Emotionen verbinden, erwächst im Älterwerden die Sehnsucht nach Seelenfrieden, nach einem Grundrauschen der Zufriedenheit, nach einem Einverstandensein mit allem, was ist. Was in jungen Jahren schwer zu begreifen ist, klärt sich häufig mit dem Alter: Auch negative Gefühle und schicksalhafte Stunden gehören zu einem erfüllten Leben. Ohne Mühsal, ohne Enttäuschung und sogar Kummer ist das Dasein nicht zu haben. Was mit fortschreitendem Leben erkennbar wird: alles auf Erden ist dauernd in Bewegung, in Veränderung begriffen, wie kann da ein Glückszustand von Dauer sein? Das Glück, es lässt sich nicht festhalten, das Unglück aber auch nicht, was insgesamt eine tröstliche Botschaft ist.
Auch die fröhlichen Afrikaner werden vor Kummer, Trauer und Weltschmerz nicht verschont, aber vielleicht gehen sie einfach anders damit um. //