Was wären wir ohne unser Unglücklichsein? Denn nichts soll schwerer zu ertragen sein als eine Reihe von guten Tagen, vermutete der alte Goethe. Der österreichische Philosoph und Psychologe Paul Wazlawick (1921–2007) erdachte in seinem Klassiker Anleitung zum Unglücklichsein Methoden, wie man den guten Tagen garantiert entkommt. Eine Auswahl von Brigitte Haertel.

Vorsicht Falle

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4/2024

1. Die Verherrlichung der Vergangenheit

Jeder Anfänger mit etwas Geschick kann es fertigbringen, seine Vergangenheit in verklärtem Licht zu betrachten. Nur, wem dieser Trick nicht gelingt, wird Pubertät (und die Kindheit) als Zeit der Unsicherheit und des Weltschmerzes erinnern und ihnen nicht einen Tag nachtrauern. Dem begabten Unglücksaspiranten fällt es nicht schwer, die Jugend als das verlorene Paradies zu erinnern, und sich damit ein unerschöpfliches Trauerreservoir zu erschließen. Frau Lot aus dem Alten Testament lässt grüßen: Der Engel sagte zu Lot und seiner Frau: „Rette Dich, es gilt Dein Leben. Schau nicht zurück und bleib nicht stehen.“ Seine Frau aber sah zurück und erstarrte zur Salzsäule.

2. Die Falle der Einbildung

Wer es zur Meisterschaft des Unglücklichseins bringen will, lasse seiner düsteren Fantasie freien Lauf. Beispiel: Ein Mann will sich einen Hammer bei seinem Nachbarn ausleihen, da purzeln ihm plötzlich Gedanken in den Kopf: Was, wenn er mir den Hammer nicht leihen will? Hat er mich nicht gestern so flüchtig gegrüßt? Am Ende denkt er noch, ich sei auf ihn angewiesen. Ich würde jemandem sofort aushelfen! Der Mann steigert sich weiter hinein in diese Übung, so lange, bis er zu dem Nachbarn stürmt, läutet, und noch bevor der ein Grußwort an ihn richten kann, brüllt der Unglücksanbeter: „Behalten Sie Ihren Hammer für sich, Sie Rüpel.“ Die Wirkung ist großartig, das gute nachbarschaftliche Verhältnis ist dahin.

3. Der Glaube an Prophezeihungen

Einen Stammplatz im Repertoire der Unglücklichseinaspiranten haben sich selbsterfüllende Prophezeiungen. Dies lässt sich am besten im größeren Rahmen betrachten. Jede von genügend Menschen geglaubte Voraussage einer Verknappung oder Verteuerung wegen angeblicher Kriegs- oder Seuchengefahr wird zu Hamsterkäufen und damit zur Verknappung oder Verteuerung der Ware führen. Die Pandemie vor wenigen Jahren hat es eindrucksvoll bewiesen. Aber auch der einzelne Mensch, der Unglückssucher, baut sich gern sein eigenes Dilemma. Sein verstärktes Augenmerk, das er auf verdächtige Anzeichen lenkt, führt mit der Zeit dazu, dass die Vorhersage sich erfüllt. Die Prophezeiung der Ereignisse führt zum Ereignis der Prophezeiung. 

4. Die Sucht anzukommen

Vom Iren Oscar Wilde stammt der Aphorismus: „Im Leben gibt es zwei Tragödien. Die eine ist die Nichterfüllung eines Herzenswunsches, die andere ist deren Erfüllung.“ Jenny Holzer nannte es: „Protect me, from what I want“, und Hermann Hesse wusste, „dass jede Wirklichkeit den Traum vernichtet“. Ankommen, womit buchstäblich wie metaphorisch das Erreichen eines Ziels gemeint ist, gilt als Gradmesser von Erfolg, Macht und Anerkennung. Umgekehrt wird Misserfolg den Dummen, den Faulen zugeschrieben. Leider ist mit dem Ankommen fast immer der Katzenjammer verbunden, das unerreichte Ziel – so scheint es unser Schöpfer zu wollen – ist begehrenswerter, romantischer, verklärter, als es das Erreichte je sein kann. Die Flitterwochen haben in der Vorstellung oft mehr Zauber als in der Realität.

5. Die Geringschätzung des Selbst

Der Club, der mich als Mitglied begehrt, dem möchte ich nicht angehören: Dieses berühmte Zitat des Schauspielers Groucho Marx ist die totale Verneinung des Bibelwortes: „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“. Der Unglücksucher nimmt nicht dankbar entgegen, dass das Schicksal ihm einen offensichtlich liebenswerten Partner beschert, oder eine Gemeinschaft ihn aufnehmen will: seine Selbstverachtung sorgt dafür, dass er jene verachtet, die ihn mögen, denn: „Mit mir kann etwas nicht stimmen und weil das andere nicht bemerken, mit ihnen ebenfalls nicht.“ Für den Unglücklichkeitsbedarf des Anfängers mag das reichen, der Experte wühlt sich weiter hinein in die Selbstablehnung und schafft sich damit die höchstmöglichen Voraussetzungen für sein persönliches Unglück.

6. Der Zwang zur Aufopferung 

Um Zweifel an der Selbstlosigkeit und Hilfsbereitschaft zu entwickeln, reichen heranschleichende Hintergedanken: Tue ich es als Einzahlung auf mein himmlisches Sparkonto? Oder den anderen zur Dankbarkeit mir gegenüber zu zwingen? Oder um meinen seelischen Katzenjammer zu kurieren? Das übersteigerte Helfersyndrom kann zur Hölle für beide Seiten werden: Gut zu beobachten in der Partnerschaft. Man stelle sich eine Beziehung vor, die sich hauptsächlich auf der Hilfe des einen für den anderen aufbaut. In diese Kategorie fallen die sogenannten aufopfernden Frauen mit ihrer fatalen Neigung, selbst Trinker, Spieler oder Kriminelle durch die Macht ihrer Liebe kurieren zu wollen, und dabei sich und andere zielsicher ins Unglück stürzen.