von Ines Young
Unweit des kleinen Orts Haworth im englischen West Yorkshire, dort, wo die Moore große Teile des Landes beherrschen, wuchsen sie mit einem Bruder und einem Vater auf, der sie alle überleben sollte.
Dem Pfarrer Patrick Bronté (1777–1861) hatte seine Frau Maria (1783–1821) in rascher Folge fünf Mädchen und einen Jungen geboren. Als die Drittgeborene, Charlotte, fünf war, starben erst ihre Mutter, dann die beiden älteren Schwestern Maria und Elizabeth im Alter von zehn bzw. elf Jahren, vermutlich an Typhus, was damals nichts Ungewöhnliches war in dem an unhygienischen Zuständen reichen viktorianischen England.
Die acht Jahre ältere Schwester der Mutter übernahm daraufhin das Regiment im Pfarrhaus. Mit ihr zog eine strenge Erziehung ein, in der für die Mädchen außer dem Gebet und stundenlangen Handarbeiten nicht viel vorgesehen war.
Anders sah es der Vater: die Töchter Charlotte, Emily und Anne sollten genau so viel lernen wie der einzige Sohn Branwell. Bald kamen ein Musik- und ein Zeichenlehrer ins Haus.
Charlotte, mit neun Jahren nun die Älteste, übernahm etliche Pflichten im Haushalt. Der Vater unterrichtete die Kinder nach seinen Vorstellungen, lehrte sie lateinische und griechische Klassiker und las mit ihnen die neuesten, konservativen Zeitungen und Zeitschriften. Aber auch seine literarischen und theologischen Schriften waren Unterrichtsstoff.
Vom Dorfalltag hielt die Familie sich fern, sie hatte nichts übrig für die Tollheiten und Spiele der Bauern- und Weberkinder. Dem peitschenden Regen und Wind ausgesetzt, wendeten die Bronté-Kinder sich früh nach innen, betrachteten das Pfarrhaus als ihre Welt, aus der mit Hilfe ihrer Fantasie alles erdenkliche entspringen konnte. Sie erzählten einander Geschichten, gingen gemeinsam im Moor spazieren. In der Abgeschiedenheit dachten sie sich eine geschlossene Fabel-Welt aus, malten diese aus bis in winzige Details der Geschichte und Geografie. Ihre ersten Helden waren zwölf bunt bemalte Holzsoldaten, die der Pfarrer seinem Sohn von einer Reise mitgebracht hatte. Unter der Regie der vier Kinder wuchsen die Holzmänner sich zu einem Figurenspiel und später zu einem Gesamtkunstwerk aus: Inseln, Städte und ganze Länder ließen die Kinder erblühen, in denen die Holzsoldaten ihre Rollen erhielten. Charlotte (1816–1855) schrieb Gedichte und Geschichten, übte sich darin, Charaktere zu entwickeln, Bruder Branwell (1817–1848) inszenierte Schlachten und beschrieb Tod und Zerstörung, beide waren die Hauptautoren der Sagen Angria, Gondal und Gaaldine, wie sie ihre Werke letztlich nannten. Rund 2000 Seiten entstanden so in winziger Handschrift, zu denen Emily (1818–1848) und Anne (1820–1849) eher weniger beitrugen. Die Mädchen waren noch zu jung und zu unerfahren im Schleifen von Texten.
Charlotte, die ab 1831 in der Schule eine systemische Bildung anstrebte, kehrte nach eineinhalb Jahren ins Pfarrhaus zurück und übernahm mit knapp 16 Jahren die Erziehung ihrer beiden jüngeren Schwestern. Aus ihren Briefen ist ersichtlich, dass sie vormittags Grammatik, Geschichte und Geografie unterrichtete und auch die Zeichenstunde überwachte. Nach dem Essen folgten Spaziergang und Nähstunde. Mit Anne soll sie nie zurechtgekommen sein, sie hielt die jüngste der Schwestern für unbegabt und sah sie nur als Anhängsel.
So wuchsen sie heran, drei Töchter des mittleren Bürgertums in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Welche Chancen boten sich ihnen?
Sie konnten Gouvernanten oder Lehrerinnen werden – und genau das taten die drei Bronté-Schwestern. Auf Dauer reichte ihnen das nicht. Auch sollen sie öfter verliebt gewesen sein, bei der geringen Auswahl an Männern ein schwieriges Kapitel. An die Bauernsöhne war nicht zu denken, und die selbst erschaffenen, edlen Ritter aus ihren fantastischen Erzählungen wollten einfach nicht vorbeikommen. Blieben nur Hilfsgeistliche, die ihr Vater eingestellt hatte. Doch diese sollen die Mädchen abgewiesen haben, bis auf einen, Arthur Bell Nicolls (1819–1906), den Charlotte später heirateten sollte.
Die Schwestern wollten schreiben, zu dumm nur, dass es damals für Frauen als unschicklich galt, und so fiel es ihnen schwer, ihren Platz im Leben zu finden.
Im Jahr 1842 reiste Charlotte zusammen mit Emily nach Brüssel, um in einem Pensionat ihre Französischkenntnisse zu verbessern. Charlottes unerwiderte Liebe zu dem verheirateten Mr. Heger wurde später zum Thema ihres Romans Der Professor, den sie, wie alle ihre Werke, unter dem Pseudonym Currer Bell schrieb. Das Buch fand zu ihren Lebzeiten kaum Beachtung und erschien erst nach ihrem Tod.
Emily, die Eigenbrötlerin, kehrte wenige Monate vor Charlotte nach Haworth zurück, kümmerte sich fortan vor allem um den Haushalt. Dass sie als die berühmteste der Bronté-Schwestern in die Literaturgeschichte eingehen sollte, war zu diesem Zeitpunkt noch weit entfernt.
Trotz aller Fürsorge des Vaters für seine Töchter hatte sein Sohn bei ihm eine bevorzugte Stellung. Branwell erhielt Privatstunden in Politik und Geschichte, durfte dem Vater früh in der Kirche zur Hand gehen, kurzum: Patrick Bronté stellte hohe Erwartungen an seinen einzigen Sohn, die jedoch kaum erfüllt wurden. Während der Pfarrer nach einem erfolgversprechenden Beruf für Branwell suchte, erkannte er, dass dieser nicht nur gut schrieb, sondern auch ebenso zeichnete. Der Vater schickte ihn auf die Königliche Kunstakademie in London, was der Familie große, finanzielle Opfer abverlangte. Branwell scheiterte schnell. Er wollte lieber schreiben als zeichnen, doch auch seine Bemühungen um einen Verlag blieben erfolglos, wie auch sein Versuch, sich als Hauslehrer zu verdingen. Bald trieb er sich nur noch in Londoner Künstlerkreisen herum, gab sich mehr und mehr dem Alkohol und später dem Opium hin. 1848, mit 31 Jahren starb er an „Auszehrung“.
Die Mädchen schrieben weiterhin an ihren Texten, vor allem Emily fiel durch außergewöhnliche Gedichte auf. 1845 fügten die drei ihre Texte zu einem Manuskript zusammen und schickten es unter dem männlichen Pseudonym Currer, Ellis und Acton Bell an Londoner Verleger. Zunächst ergebnislos.
Dennoch stürzten sie sich bald auf die schwierigste literarische Form, einen Roman. Charlotte schrieb The Professor, Emily Wuthering Heights (Sturmhöhe) und Anne Agnes Grey, sozusagen der erste feministische Roman der englischen Literatur. Ab 1846 kursierten die Manuskripte in den Londoner Verlagen.
Charlotte schrieb Jane Eyre nieder, das Buch erschien 1847 und wurde begeistert aufgenommen. Im gleichen Jahr kamen Emilys Wuthering Heights und Annes Agnes Grey heraus. Die Londoner Verleger wussten zu diesem Zeitpunkt noch nicht, wer hinter den angeblichen Bell-Brüdern stand. Angetrieben durch den Erfolg der Bücher schacherten sie um die Lizenzrechte. Nun sahen die Schwestern sich gezwungen, ihre Identität zu lüften.
Emilys und Annes Romane lösten einen Sturm der Ablehnung aus, denn sie fielen aus allen moralischen und literarischen Konventionen der Zeit heraus. Besonders Wuthering Heights, eine leidenschaftliche Liebesgeschichte, die sich in zwei Dreiecksverhältnissen entfaltet, erregte die Gemüter. Ein gutes Jahr nach Erscheinen des Buches starb Emily mit dreißig Jahren an Tuberkulose. Auch Annes Agnes Grey trat nicht zimperlich auf und stellte das zügellose Leben eines Ehemannes in den Mittelpunkt. Das Buch war nicht nur ein Skandalerfolg, es wurde auch im Pfarrhaus gefeiert, hatten doch die Schwestern der zarten Anne weder das Thema noch den Stil zugetraut. 1949 starb auch sie, ebenfalls an Tuberkulose. Im Gegensatz zu Emily, die ihr Schicksal ergeben angenommen hatte, tat Anne sich schwer mit dem Sterben, kämpfte lange gegen ihr Leiden an.
Tieftraurig und einsam schrieb Charlotte im Pfarrhaus an ihrem zweiten Roman Shirley, der weniger euphorisch aufgenommen wurde. In dieser Zeit gestand ihr der Hilfspfarrer Arthur Bell Nicholls seine Liebe. Gegen den ausdrücklichen Willen des Vaters heiratete sie ihn 1855, Patrick Bronté hatte sich für seine einzig verbliebene Tochter etwas Besseres gewünscht. Doch das Glück währte nur kurz. Ein Jahr nach der Hochzeit starb auch Charlotte, schwanger, aber bereits infiziert mit der Schwindsucht.
Im Pfarrhaus lebten nun Patrick Bronté und Nicholls in tiefer Abneigung zueinander, sich ignorierend und manchmal bekämpfend. Nach Patrick Brontés Tod erbte Nicholls den kompletten Nachlass der Schwestern, mit allen Rechten an ihren Werken. Die Bronté-Schwestern und ihre Romane waren berühmt und sollten es für immer bleiben. //