Foto: Maximilian Heinsch

„Ich bin dankbar, dass ich noch lebe“, sagt Constanze Falkenberg, die Frau, die bei einem Verkehrsunfall ihren Mann und ihre drei Kinder verlor. Sie selbst wurde schwerverletzt. Die Kraft zum Weitermachen schreibt sie ihrem Glauben zu.

Neustart
am
Abgrund

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1/2025

Die deutsche Sprache hält für die Schrecken des Lebens ausreichend Adjektive bereit, von „niederschmetternd“, „monströs“ bis „katastrophal“ ist alles dabei. Kein einziges Adjektiv aus diesem Schattenreich würde dem Unerhörten gerecht, dass Constanze Falkenberg vor über zwölf Jahren erleiden musste.

Im November 2012, auf der Rückfahrt von einem Familienbesuch, irgendwo auf der Autobahn bei Nürnberg, traf das Fahrzeug, in dem sie mit ihrem Mann und ihren drei Kindern saß, mit Wucht auf einen LKW, der von der Gegenfahrbahn kommend die Leitplanke durchbrochen hatte. Da war nur ein kurzes Dunkel, eine Art Zeitlupe, dann schaute sie, die Beifahrerin, nach links, sie schaute nach hinten, aber da war nichts mehr. Noch heute sieht sie, wie sie versucht, sich aus dem Autowrack zu befreien, wie sie nach ihrem Handy sucht, und sie hört sich sagen: „Kinder, wir müssen jetzt raus.“ 

Und gleichzeitig ein Gedanke mit großer Klarheit: „Wenn ich jetzt nix mehr höre, weiß ich, dass die Vier schon weg sind.“ Sekunden später, verletzt auf der Leitplanke kauernd, neben sich ein Mensch, von dem sie nicht mehr weiß, ob es ein Mann oder eine Frau war, musste sie dem Unfassbaren zusehen: Wie ihre Familie in dem völlig zerstörten Auto verbrannte. 

Ich habe Constanze Falkenberg nicht persönlich getroffen, nur über einen kleinen Bildschirm mich lange mit ihr unterhalten. Das Gespräch hatte ich schon eine Weile vor mir hergeschoben, mich davor gefürchtet, vor ihrem Leid. Und dann war alles ganz einfach: Sie wirkte natürlich, echt, aber auch ein bisschen wie-nicht-von-dieser-Welt. So als wüsste sie etwas, das andere nicht wissen (Anm. d. Autorin)

Ihre körperlichen Verletzungen, Knochenbrüche zumeist, verheilten, aber wer will, wer kann sich vorstellen, wie viel Schmerz in ihren Eingeweiden wütete, wie viele Gedanken sie marterten, wie viel innere Filme, vor allem nachts, wenn sie nicht schlafen konnte.

Man will es sich nicht vorstellen, weil man glaubt, schon die Vorstellung nicht ertragen zu können. Constanze Falkenberg ertrug die Wirklichkeit und fand sogar Sinn in einem neuen Anfang. Wenn es tatsächlich so ist, dass Gott einem Menschen nur so viel aufbürdet, wie er zu tragen vermag, dann ist sie der lebende, der überlebende Beweis.

„Ich werde getragen vom Glauben“, sagt sie fest, ohne zu wanken. „Ich wähne die Vier bei Gott und glaube, dass es ihnen dort gut geht. Dieser Gedanke hat es mir erlaubt, mein Schicksal anzunehmen und weiterzugehen.“

Es ist wohltuend, mit Constanze Falkenberg zu sprechen, sie ist eine Frau, die gern lacht! 

Ja, Sie haben richtig gelesen: Zwölf Jahre nach ihrer persönlichen Tragödie verströmt sie Wärme, Humor und Offenheit: „Gestern Abend war der beste Freund meines Sohnes bei mir, er brauchte Beistand: Es macht mich dankbar, helfen zu können, meine Tür ist immer offen.“

Noch immer lebt sie in jenem Haus, in dem sie einst mit Mann und drei Kindern, damals sieben, elf und dreizehn Jahre alt, zuversichtlich jedem neuen Tag entgegenstrebte. 

Nach dem Unfall blieb dieses Haus ihr Zufluchtsort, unvorstellbar fortzuziehen. Die Präsenz ihrer „Vier“ zu spüren, sie einatmen zu können, wurde zum Überlebensmotor. Ganze Nächte verweilte sie in den Kinderzimmern, hielt und streichelte in ihren Händen, was ihr von den Kindern geblieben war. Versuche, Abschied nehmen zu können, loszulassen.

Was macht es heute mit ihr, über all das zu sprechen: „Ich bin noch immer fassungslos über das, was geschehen ist, und das wird sich auch nicht ändern. Auch fassungslos darüber, wie ich das alles verkraftet habe.“

Constanze Falkenberg ist gläubig, seit ihrer Kindheit kirchlich engagiert in der Pfarrei ihres Heimatortes bei Bruchsal. Sie war eine der ersten Ministrantinnen, wurde später Oberministrantin, war vorne weg bei der Jugendarbeit, und wenn andere Kinder sich auf der Straße herumtrieben, war sie mit Gleichgesinnten in der Kirche. Es folgte das obligatorische, katholische Programm, die Erstkommunion, die kirchliche Hochzeit, die Taufe der Kinder. „Mein Mann hat nicht an Gott geglaubt, aber er hat das alles mitgetragen. Er lebte die christlichen Werte, war mitfühlend und stets bereit, anderen zu helfen.

Auch nach dem 3. November 2012, dem Tag ihrer Heimsuchung, blieb Constanze Falkenberg dieser Kirche und ihrem Glauben verbunden, ja, mehr noch: sie schaffte es, das Verstörende dem Plan Gottes zuzuschreiben und diesen Plan anzunehmen.

„Diese ‚Warum-Frage‘ ist bei mir nie aufgekommen, das werde ich natürlich oft gefragt. Aber es liegt mir fern. Es führt ja nirgendwohin, außer im Kreis herum.“

Damals, auf der Intensiv-Station, saß ihre Schwester an ihrem Bett, Tag und Nacht und weinte mit ihr. Nach der Entlassung zog Constanze Falkenberg für zwei Monate zu ihrer Mutter. Jeden Morgen nahm sie das iPad zur Hand und sah sich Bilder von ihren Liebsten an.

„Es war eine schwarze Welle damals, für diesen Schmerz habe ich keine Worte.“ 

Die Menschen, die den Mut hatten, sie zu besuchen, sind ihr für immer im Gedächtnis und im Herzen geblieben. Da gab es keinen Tag, an dem nicht jemand vorbeikam in der großen Familie mit dem großen Freundeskreis und dem großen Kummer. Ihre Mutter versorgte die vielen Besucher mit selbstgebackenem Kuchen, mit belegten Brötchen, der Vater ordnete den Papierkram und die Schwester koordinierte alles. 

Funktionieren, um dem Absturz zu entgegen. 

„Ich stand mittendrin und habe überallhin Kraft verteilt, keine Ahnung, wo die herkam.“ 

Constanze Falkenberg stutzt ein wenig, fügt hinzu: „Das schiebe ich dem lieben Gott in die Schuhe, das hat er mir mitgegeben. Ich war von vorn bis hinten geleitet und getragen. Was anderes kann ich dazu nicht sagen.“

Deswegen gibt sie Interviews, sieht es als ihre Aufgabe an, mit Menschen über den Tod zu sprechen, über Verlust und Trauer, über die Kraft des Glaubens. Sie weiß: mit ihrem kompromisslosen Lebensmut verströmt sie Hoffnung.

Diesem Lebensmut stehen die ungezählten, dunklen Stunden gegenüber, die anzunehmen sie lernen musste.

„Wenn mich die Trauer akut anfällt, tut es noch immer so weh wie am Anfang, aber sie gehört jetzt zu mir. Je weniger ich mich gegen die Trauer wehre, umso besser. Natürlich ist es nicht einfach, aber ich fühle mich noch immer geleitet und getragen.“

Hat sie diesen unerschütterlichen Gottesglauben, in dem ja ein bisschen der Kinderglaube durchscheint, hat sie ihn jemals reflektiert, ihn hinterfragt? 

„Nein“, sagt sie entschieden. „Dabei muss es bleiben.“ Und weiter: „Ich habe schon Gespräche darüber geführt, und ich will es mir auch nicht zu leicht machen, aber so passt es für mich.“ 

Eineinhalb Jahre nach dem Unfall hat sie sich zur examinierten Physiotherapeutin ausbilden lassen. Sie wollte etwas Neues beginnen, war sie doch in den Jahren zuvor als Familienmanagerin zuhause geblieben. Dafür ist sie heute dankbar. „Wir haben alles in unsere wertvolle Zeit gepackt, die wir hatten.“ 

Heute geht sie in ihrer neuen Berufung auf, in der sie Menschen Gutes tun kann. Über die Weisheit des Körper hat sie viel Faszinierendes gelernt: in der schlimmen Phase ihres Leidens hatte ihr eigener Körper ihr signalisiert, was er brauchte: Bewegung! Sie ist viel gelaufen damals, hat an Triathlon-Wettbewerben teilgenommen und sich völlig verausgabt. 

Anrennen gegen den Schmerz.

Wenn es Weihnachten wird, wenn Geburts- und Gedenktage die Erinnerung neu beleben, wenn die Bilder wieder stärker ins Bewußtsein drängen, die lachenden Kinder in ihren Ohren tönen, dann kommt die Zeit, die sie für sich braucht.

„Ich habe etliches ausprobiert, bin weggefahren, aber es ist besser für mich, in den Prozess des Schmerzes hineinzugehen. Im Juni haben mein Sohn und eine Tochter Geburtstag, im Juni war auch unsere Hochzeit, an diesen Tagen gehe ich nicht mehr arbeiten, da ist es wichtig, dass ich zu Hause bin. Alles andere würde mich zu viel Kraft kosten.“

Seit einigen Jahren hat sie eine neue Gefährtin, eine Hündin, die sie auf langen Spaziergängen in der Natur begleitet. Draußen, im Freien, spricht Constanze Falkenberg oft mit Gott. 

„Ich mache ihm keine Vorwürfe, ich bitte ihn auch um nichts, ich bin ihm vor allem dankbar, dass ich lebe und auch, wenn ich etwas Schönes in seiner Schöpfung sehe. Meine Ausbildung zur Heilkräuterexpertin hat mir noch mehr gezeigt, was Unglaubliches drinsteckt in dieser Schöpfung.“

Inzwischen, nach all den Jahren, kann sie sich vorstellen, in ein kleineres Haus zu ziehen. „Aber so lange der Hund lebt, geht es nicht, für ihn wäre es am schwierigsten.“

Es sind die anderen, um die sie sich sorgt, in deren Seelen sie sich einfühlt.

Da ist der polnische LKW-Fahrer, der Unfallverursacher, der unverletzt, aber mit dem Wissen leben muss, so viele andere Leben zerstört zu haben. Er hat den Crash wohl nicht verschuldet, ein Reifen hatte Luft verloren, und das schwere Fahrzeug war für ihn nicht mehr kontrollierbar, so oder ähnlich stand es damals in dem Gutachten. Dennoch wurde ein Strafverfahren gegen ihn eröffnet. Constanze Falkenberg setzte sich dafür ein, ihn freizusprechen. „Ich habe ihm schon in der Unfallnacht ausrichten lassen, dass ich ihm keine Schuld gebe, er muss ja für immer mit dem Ereignis leben, ich wollte nicht auch noch seiner Familie Leid verursachen.“

Im Hintergrund klingelt ein Telefon, sie entschuldigt sich und geht ran. Ich überlege, ob ich sie nach einer neuen Beziehung fragen soll, es erscheint mir nicht ganz passend, aber als sie zurückkehrt, ermuntert mich ihre unbefangene Natürlichkeit (Anm. d. Autorin)

Sie überlegt eine Weile, antwortet zögernd. „Für mich wäre es schwierig, sicher auch für jemanden, der in mein Leben kommt. Die Vier sind ja immer präsent.“ 

Kleine Pause, dann beginnt sie doch zu erzählen: sehr bald nach dem Unfall sei der Bruder eines guten Freundes bei ihr eingezogen, sie habe viel mit ihm aufgearbeitet, ihre Muttergefühle an ihm ausleben können (wo hätte ich denn sonst mit ihnen hingesollt?). 

Es sei wohl so etwas wie eine Beziehung gewesen, eine Art Übergang, nicht gedacht für die Ewigkeit. Ihre Familie habe erleichtert aufgenommen, dass jemand bei ihr, sie nicht allein im Haus war.

Andere haben sie gefragt: „Wie kannst Du jetzt schon einen jungen Mann bei Dir haben?“ Sie lacht, schüttelt den Kopf und schließt das Thema ab:

„Wir sind noch immer gute Freunde. Heute bin ich offen, aber nicht auf der Suche.“

Constanze Falkenberg ist eine Frau mit einem ausgeprägten Verantwortungsgefühl. Letztes Jahr machte der Tod in ihrer Familie wieder von sich reden, ihr Vater und ihre Schwiegermutter starben, das habe sie noch einmal sehr gefordert, am Ende habe sie alles irgendwie hinbekommen. 

„Jetzt sind auch sie bei den Vieren.“

Man könnte fast meinen, sie führe ein normales Leben, wie viele andere Menschen. Sie treibt Sport, ist engagiert in Vereinen und sozialen Projekten. Mit ihrer Schwester singt sie im Chor und trifft jeden Sonntag ihre Familie beim großen Frühstück.

„Ich habe hier noch eine Aufgabe, vor allem bin ich für andere da. Solange ich lebe, universell gesehen eine sehr kurze Zeit, selbst, wenn ich Hundert werde, muss mich hier ordentlich verhalten, damit ich zu meinen Lieben in den Himmel komme und nicht nach unten muss.“

Sie lacht leise, die Frau mit dem fast normalen Leben.  //