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aufnahme

Foto: Ryan Cuerden /unsplash

theo-Autor Sven Schlebes hat erfahren, dass er auch mit Glaubensfragen immer wieder neu beginnen muss. Hier seine Erkenntnisse.

1/2025

„Ein typischer Fall von News Fatigue.“ Mein Kollege zuckte mit den Schultern. „Zu viele Nachrichten auf zu vielen Geräten und Apps, so dass du nicht mehr reagierst.“ Recht hatte er. Leider. Eine tiefe Müdigkeit zog seit Wochen durch Kopf, Glieder und Herz. Gefühlt 90% der Botschaften, die mich erreichten oder die ich noch wahrnahm, hatten warnenden, weinenden oder weisenden Charakter. Irgendwann hatte ich losgelassen. Innerlich. Ich sah und las. Aber verstand nicht mehr. Im Projektgeschäft nicht wirklich förderlich. Im Partnerschafts- und Familienalltag auch nicht. Und im Gebet mit dem Großen und Ganzen … Ach, lassen wir das einfach los.

Dabei hatte ich mir vorgenommen, dem beständigen Erneuerungsanspruch nicht nur technologisch mit einem täglichen Update-slot nachzukommen, sondern auch persönlich: „Überprüfen, was dich selbst, dein Leben – und ja, auch deinen Glauben – auszumachen scheint. Und neu auszulegen.“

Abgeschaut hatte ich mir das schon während des Studiums von einem meiner jüdischen Kommilitonen. Wir hatten über die „Einfachheit des Glaubens“ gestritten. Als geistiger Urenkel von Martin Luther fühlte ich mich beständig gedrängt, Gutes zu tun, das Böse zu bekämpfen, etwas zu machen. Vor allem: Ordentlich zu machen. Etwas neidisch blickte ich damals auf meine katholischen Freunde mit ihrem „Gestehen. Vergeben und wieder abfeiern.“ Und bei meinen wenigen jüdischen Mitstudenten diagnostizierte ich eine tiefe Freude, die ich aus einem noch tiefer empfundenen Angenommensein – zwar nicht von der (feindlichen) Welt – aber von ihrem Gott vermutete. Teil einer alten und ewigen Geschichte. Zwar ewig ringend. Aber ewig wahr. Beide Freundesgruppen lachten damals. Wer ging schon gerne zur Beichte? Wer fühlte sich schon gerne auf der Flucht vor allem und insbesondere in Angst um Leib und Leben? Und: Wer hatte schon Lust, das anscheinend ewige Gesetz des Lebens und Glaubens beständig zu überprüfen und zeitgemäß auszulegen?

Denn vor allem das (progressive) Judentum empfindet – auch und gerade heute noch – die Auslegung der Tora und des Talmuds als eine beständige Aufgabe des Glaubens. Ihre Gelehrten diskutieren kontinuierlich, wie traditionelle Texte auf aktuelle gesellschaftliche und ethische Fragen angewendet werden können. Und das Reformjudentum unterstreicht die Notwendigkeit, religiöse Gesetze und Rituale an moderne Werte und Lebensrealitäten anzupassen.

Von wegen „einmal erzählt“ und „einfach nachverfolgt“. Selbst ist der Glaubende. Ok – zumindest die Gelehrten. Und der Glaube ein sich ständig weiterentwickelnder Gesamtorganismus.

Wesentlich neben der schriftlichen Tora ist die sogenannte „mündliche Tora“: eine tatsächlich mündlich überlieferte Auslegung, die die Gebote auslegte und sie auf praktische und tagesaktuelle Situationen anwendete. Von Generation zu Generation. Bis sie nach der Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahr 70 n. Chr. ebenfalls schriftlich kodifiziert wurden. Vor allem im Talmud, der Interpretation der biblischen Gesetze, diskutierten Rabbiner über rechtliche, ethische und spirituelle Fragen.  

Direkte Prophetie, da sind und waren sich nicht nur meine jüdischen und christlichen Bekannten einig, gibt es heute nicht mehr. Eine direkte Offenbarung Gottes: Geschichte. Wie also soll man das Alte mit der Gegenwart versöhnen und Antworten generieren?

Im Christentum haben wir das Lehramt des Papstes. Als Stellvertreter sagt er, was richtig ist. Und was falsch. Meine (progressiven) jüdischen Kollegen dagegen verwiesen immer auf das Pluralitätsprinzip: die Schrift ist zwar da, aber ihre Auslegung ist auch heute – ganz traditionell – eine beständige Gruppenaufgabe.

Noch weiter gingen im 19. Jahrhundert die Gründer der sogenannten „Baháì“-Religion, die den beständigen Austausch von Wissenschaft, Forschung, Fortschritt und ihren eigenen Gläubigen als Grundlage ihres Selbstverständnisses vertraten. Austausch und Anpassung zur gegenseitigen Befruchtung, Weiterentwicklung und innere Vertiefung als Fortschrittsempfinden. Ein Gott. Viele Religionen. Noch mehr Namen. Aber immer dieselbe Quelle.

Damals im Studium war ich auf der Suche nach der ewigen Wahrheit. Nach der ewigen Erkenntnis.

Je mehr ich allerdings nachbohrte, umso weiter entzog sich mir „das Wahre“. Fest gegriffen und sofort zerflossen. Nichts, an dem ich mich wirklich festhalten konnte. Damals gab es für mich zwei Wege: Zurück zum Kinderglauben. Oder voran ins Ungewisse. In ständiger Anpassung. Ich wählte einen dritten: Ein bisschen Kinderglaube, ein ständiges Loslassen, eine immer wiederkehrende Anpassung. Klingt viel. War aber am Ende Glaube light. Weil es mir nicht wirklich etwas brachte. Die echte Begegnung fehlte. Viel „Irgendwas“. Wenig „das“.

Vor einem Jahr lernte ich ausgerechnet im Tagesmeeting eines Technikteams jemanden kennen, der die Tageslosungen der Bibel als Diskursaufgabe für sich übernommen hat. Zwischen Bits und Bytes. Angesichts einer schier überbordenden KI und inmitten beständig blinkender Warnleuchten auf Dashboards und Endgeräten. 

Lesen. Für sich selbst überprüfen. Mit anderen Menschen darüber reden. Ins eigene Leben integrieren. Ich muss sagen: Die Konzentration auf Weniges machte eine echte Begegnung erst möglich. Jetzt mögen die Angehörigen von Orden unter ihnen und Zen-Jünger schmunzeln: „Das machen wir doch schon ewig.“ Aber ich brauchte dafür eben Jahrzehnte. 

Weniges wirklich tun. Um es echt zu überprüfen und zum Leben zu erwecken.

Es ist. Es steht geschrieben. Und wird lebendig weitergeschrieben.  //