Manchen Menschen spielt die katholische Genetik auf besondere Art und Weise mit. Bruce Springsteen ist so einer. Was sollte schon anderes herauskommen bei einer italienischen Mutter und einem irischen Vater als ein streng an den Geboten der una sancta entlang erzogener junger Mann. Jahre später, während seiner Live-Show „Springsteen on Broadway“ 2019, analysierte der kommerziell vielleicht erfolgreichste Rockmusiker unserer Zeit mit herber Ironie diesen Umstand: „Ihr wisst ja, was man über Katholiken sagt: Man kommt da nicht raus. Die Bastarde haben dich fest im Griff. Sie haben ihre Arbeit gut gemacht.“
Viele aus der mit „Boss“ Springsteen in die Jahre gekommenen Fangemeinde wissen, wovon er spricht. Es sitzt drin, das Katholische, so tief, dass auch zwischenzeitliche Auszeiten oder regelrechte Fluchten letztlich nichts ausrichten, spätestens der Herbst des Lebens bringt die frühkindliche Prägung wieder an die Oberfläche. „Einmal Katholik, immer Katholik“, sagt Springsteen heute.
Es war das, was man heute „ärmliche Verhältnisse“ nennen würde, in die Bruce am 23. September 1949 in Long Branch, New Jersey, hineingeboren wurde. Der irische Vater Douglas war eine cholerische, schroffe Person, der es schwerfiel, emotionalen Kontakt zu seinen Kindern herzustellen. Dazu wenig erfolgreich in dauernd wechselnden Jobs. Bruce Springsteen erinnert sich an seinen Vater als einen frustrierten, abends oft betrunken in der Küche sitzenden Mann. Seine italienische Mutter, Adele, war dagegen eine warmherzige, aktive Frau, die das Familienleben mit Bruce und seinen zwei jüngeren Schwestern organisierte. Vor allem das katholische.
Die ersten sechs Schuljahre des von Nachbarn als unbeschwertes, aktives Kind beschriebenem Bruce waren geprägt von „sehr religiös geprägtem Unterricht“. Zwischen seinem sechsten und zwölften Lebensjahr musste er in der von Franziskanerinnen geleiteten St.-Rose-of-Lima-School jeden Tag der Woche eine Stunde lang die Bibel und den Katechismus büffeln. Springsteen empfand das als „harte Behandlung durch Nonnen“. Die Folge: die erste Auszeit. „Als ich zwölf Jahre alt wurde, habe ich mich schließlich verweigert: Das war’s jetzt, nie wieder.“
Viele Jahre später, in einem Interview mit dem Magazin der Süddeutschen Zeitung, ordnet Springsteen seine Flucht aus dem organisierten Glauben ein: „Je älter ich werde, desto mehr realisiere ich, dass ich möglicherweise versucht habe, meinen Glauben zu verlassen – aber dass mein Glaube mich nicht verlassen hat. Manchen Erfahrungen seines Lebens entkommt man nicht.“
Auch oder gerade nicht sehr speziellen Erfahrungen. Nach einem Umzug lebte die Familie direkt neben der katholischen Kirche in Freehold, New Jersey. Der junge Messdiener Bruce sah jede Hochzeit, jede Beerdigung, jede Messe, immer wieder Priester und Nonnen, die kamen und gingen. All dies habe ihm „sehr anschaulich den Sinn des spirituellen Lebens vermittelt“, sagte Springsteen, nicht ohne augenzwinkernd hinzuzusetzen: „mit meinem Sex-Leben war das damals aber etwas schwer zu vereinbaren.“
Vielleicht auch mit seiner einsetzenden Karriere. Bruce wollte raus, raus aus dem als bedrückend empfundenen Leben seiner Eltern, raus aus deren Welt und damit auch raus aus dem so regelgetreuen Katholizismus. Mit 14 Jahren wechselte er auf die regionale High School von Freehold und entdeckte die Rockmusik als Möglichkeit, der Enge seines bisherigen Lebens zu entfliehen. Das kulturelle Leben im Hause Springsteen war hauptsächlich durch den Fernseher bestimmt und Bruce hatte so gut wie keinen Zugang zur Literatur. Erst durch Bob Dylan lernte er die Ausdrucksmöglichkeiten in Songtexten kennen. Er begann ernsthaft Gitarre zu üben und spielte in lokalen Bands. Er ging keiner geregelten Arbeit nach, verbrachte die Zeit vielmehr mit Musik, Softball, Surfen, Mädchen und Autofahren. Sein ausgesprochen zwiespältiges Verhältnis zu seinen Wurzeln blieb lange Triebkraft einer außergewöhnlichen Karriere und wohl auch lange unbearbeitetes Kapitel, das sich in vielen seiner Liedtexte wiederfand.
Biblische Motive hielten schon früh Einzug in die Texte Springsteens. 1978 erschien mit Adam raised a cain auf einem seiner besten Alben Darkness on the edge of town ein autobiografisches Stück, in dem er die schwierige Vater-Sohn-Beziehung mit Adam und Kain verglich. In Devils an Dust (2005) nacherzählt er in der Piano-Ballade Jesus was an only son, Jesus’ Lebensgeschichte und spricht von einem Verlust, der nie wieder gutzumachen ist. Doch Springsteen
schöpft in dem Lied am Ende Hoffnung auf Auferstehung. In Nebraska (1982) zitiert er in dem Titel My Father’s House das Johannes-Evangelium mit den Worten „Im Haus meines Vaters gibt es viele Wohnungen“.
Mit den Alben Born In The U.S.A. (1984) und dem wohl bekanntesten Springsteen-Song aller Zeiten sowie dem Klassiker Born To Run (1975), das eines der besten Rockalben der Geschichte ist und Springsteen zum Weltstar machte, hat der Boss Unsterbliches geschaffen.
Heute hat er sich auf den Rückweg gemacht, nach Hause, ideell wie emotionell. Vielleicht ist es das Endliche, das ruft. „Man wird spiritueller, je älter man wird“, sagte er der englischen Times. „Man ist der anderen Welt näher, vielleicht hat das etwas damit zu tun … Ich fühle mich immer noch zur katholischen Kirche hingezogen. Ich besuche meine kleine Kirche ziemlich oft … Ich spüre immer noch den Einfluss der katholischen Kirche auf mich.“ Immer wieder zieht es ihn zurück in die Pfarrkirche in Freehold, New Jersey, deren Kirchturm einen langen Schatten auf seine Arbeiterkindheit warf und deren Liturgien in fast jedem Song widerhallen, den er seitdem geschrieben hat. In seiner Autobiografie Born to Run schrieb der Musiker: „Ich nehme nicht sehr oft an meiner Religion teil, aber ich weiß, irgendwo tief in meinem Inneren gehöre ich weiter dazu. In dieser Welt finde ich den Anfang meiner Songs. Im Katholizismus ist diese Poesie, die Gefahr und die Dunkelheit, die mein Innerstes widerspiegelt.“
Und so sind heute Konzerte für ihn mehr als austauschbare Rock’n’Roll-Feste in austauschbaren Städten und austauschbaren Hallen. Konzerte zu geben gleiche auch manchmal einem religiösen Akt, sagte der 75-Jährige. Es komme auf das Zusammenspiel von Publikum und Musikern an. Manchmal trage das religiöse Züge. „Ein gelungenes Konzert ist eine transzendente Erfahrung“, findet Springsteen.
Vielleicht ist nur mit dieser Erfahrung einer seiner legendärsten Auftritte zu verstehen. Es war 2019, nach einer langen Reihe von Konzerten unter dem Titel „Springsteen on Broadway“ im Walter Kerr Theatre in New York. Spring
steen beendete seinen zweieinhalbstündigen Auftritt mit dem Vaterunser. Und es ist mucksmäuschenstill, als er mit den Worten schließt: „Und möge Gott euch segnen, eure Familien und all jene, die ihr liebt. Danke, dass ihr da wart.“ //