von Birgit Fuss
Als ich vor mehr als 30 Jahren in einem dieser Fragebögen für Freundinnen, die Teenager sich gern gegenseitig zustecken, sagen sollte, was mir im Leben wichtig ist, schrieb ich: „Musik. Worte. Menschen. (Nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.)“ Heute würde ich die Menschen an die erste Stelle setzen, ansonsten bleibe ich dabei. Ich wurde 1972 in Fürstenfeldbruck geboren, nach dem Abitur verschwand ich für einige Monate nach London, bis mir das Geld ausging, danach zog ich in den Norden und fing 1993 als Journalistin bei der Hamburger Morgenpost an. Meine Magisterarbeit im Fach Amerikanistik beschäftigte sich mit der Band R.E.M., aber schon während des Studiums war mir die Arbeit immer wichtiger. Ich habe für Presseagenturen, Videotexte, Zeitungen und Zeitschriften geschrieben. Seit 2000 bin ich Redakteurin bei der deutschen Ausgabe des ROLLING STONE, habe Bruce Springsteen, Bono und mehr als 400 andere interessante Menschen interviewt, bin mit dem Heft erst nach München, dann nach Berlin gezogen – und kam mir recht stabil vor, mit einer ordentlichen Ehe, wunderbaren Freunden und Freundinnen und meiner Begeisterung für so vieles: Musik, Literatur, Essen, Wein, Reisen, Serien. Bis im Jahr 2016/17 mein Leben komplett auf den Kopf gestellt wurde.
Für mich begann ein zweiter, noch viel schönerer Lebensabschnitt, einer, in dem Empathie und Sinn eine (noch) größere Rolle spielen: Ich habe mich verliebt, ein wunderbares Jahr mit meinem Lebensmenschen verbracht – und dann ist er keine zwei Wochen nach seiner Krebsdiagnose in meinen Armen gestorben. Über diese Zeit habe ich ein Buch geschrieben, das hoffentlich bald veröffentlicht wird – der erste Satz, den ich damals notierte, war:
„Der Tod, das weiß ich jetzt, hat überhaupt keine Chance gegen die Liebe.“ Zumindest dessen war ich mir sofort sicher, alles andere war erst einmal Chaos. Und dann, als ich wieder einigermaßen klar denken konnte, habe ich beschlossen, dass ich anderen in ähnlichen Situationen helfen möchte. Um etwas von all der Hilfe, die ich bekommen habe, zurückzugeben – und auch weil es immer noch so viel Unwissenheit, so viel Ratlosigkeit bei den Themen Tod und Trauer gibt. Ein bisschen möchte ich gern dazu beitragen, dass es leichter wird für alle Beteiligten, denn eins ist ja sicher: Vorm Sterben können wir uns alle nicht drücken, wir werden es (mit-)erleben, früher oder später. Gut, wenn einem dann jemand zur Seite steht – und weil Familie und Freunde oft so nahe dran sind, dass sie vor lauter verzweifelter Liebe hilflos sind, darf das auch jemand „Professionelles“ sein. Von meiner eigenen Trauerbegleiterin, die mir so viele wertvolle Hinweise gegeben hat, inspiriert, habe ich mich für eine der umfangreichsten Schulungen entschieden, die es in dem Bereich gibt: Von November 2018 bis Februar 2021 habe ich an der Sterbeammen-/Sterbegefährten-Akademie von Claudia Cardinal die Ausbildung zur Sterbe- und Trauerbegleiterin gemacht.
In dieser Zeit habe ich gelernt, einigermaßen unschockierbar zu sein, so dass ich Menschen in diesen Krisen mit Mut und Mitgefühl begleiten kann. Mein Schwerpunkt sind dabei Trauernde. Meine eigene Erfahrung und die vertiefenden Erkenntnisse bei meiner Ausbildung nehme ich in jede Begleitung mit. Ich biete keine Patentrezepte an, alle sind Experten für ihre eigene Situation, also gehe ich von den individuellen Bedürfnissen aus und versuche, gemeinsam mit den Trauernden Ansätze zu finden, um Ängste (auf) zu lösen und vom Gefühl der Ohnmacht, der Hilf- und Sprachlosigkeit wieder zu einer lebensbejahenden Kraft zu finden. Dabei hilft es oft, über die eigenen Grenzen hinauszublicken und sich den spirituellen Fragen zu stellen, die bei extremen Erfahrungen auf einen einströmen. Viele Trauernde fühlen sich plötzlich fremd in dieser Welt, nicht mehr als Teil der gewohnten Gesellschaft, auf einmal ist alles anders. Neue Denkweisen und Ideen können helfen, den Lebenssinn (wieder) zu finden – und zu mehr Frieden und Freiheit zu kommen, im besten Fall zu einer Heilung. Wie lange das dauert, ist offen – auch dafür gibt es keinen festgelegten Rahmen, kein „richtig“ oder „falsch“. Den Druck, möglichst schnell wieder „normal“ zu werden, möchte ich gern rausnehmen – gerade weil ich das Gefühl kenne, wenn einem bei der Arbeit oder in der Familie der Eindruck vermittelt wird, man habe jetzt mal genug getrauert und könne langsam wieder „die Alte“ werden. Nach einem großen Verlust wird niemand jemals wieder sein wie vorher, und inzwischen kann ich mit Sicherheit sagen: Das ist auch gut so.
Meine Trauerbegleitung soll Hilfe zur Selbsthilfe sein. So wie mir damals geholfen wurde, den Weg zu finden, den ich gehen kann und will. Zusammen mit meiner ehemaligen Trauerbegleiterin habe ich dafür einen kleinen, gemütlichen Raum namens „Windsaat“ in Berlin-Wilmersdorf, ich biete aber auch Beratungen per Videokonferenz (Zoom) an – gerade in diesen Zeiten eine sinnvolle Ergänzung, weil man sich dadurch ortsungebunden „treffen“ kann. Und erstaunlicherweise funktioniert das ziemlich gut, wenngleich die virtuelle Begegnung natürlich nie ganz so schön ist wie die persönliche. Das Wichtigste für Trauernde ist, sich überhaupt Hilfe zu suchen – viele trauen sich das ja nicht. Deshalb möchte ich so viele Optionen wie möglich anbieten, bald auch Trauergruppen.
Manchmal fragen mich Leute, ob das nicht alles zu belastend ist. Warum ich mich nun auch noch professionell mit dem Sterben und dem Tod beschäftige. Ob ich das alles nicht lieber hinter mir lassen will. Da muss ich fast ein wenig schmunzeln, denn: Niemand von uns kann den Tod hinter sich lassen, er liegt ja stets vor uns. Für mich gehört das Nachdenken darüber inzwischen einfach zum Leben dazu – und es macht mich nicht trauriger, sondern gibt dem Leben mehr Tiefe. Heute kann ich mir kaum noch vorstellen, dass es mal eine Zeit gab, in der ich dachte, wir hätten nur diese kleine Welt hier und nach dem Tod wäre alles vorbei, es kommt mir fast wie eine Bewusstlosigkeit vor – obwohl ich immerhin viel Freude und Begeisterungsfähigkeit hatte und Liebe schon immer das Allerwichtigste für mich war. Nur richtig ausleben konnte ich all das nicht. Das ist heute anders, und dafür werde ich meinem Geliebten ewig dankbar sein. Er hat mir im Leben und im Sterben so viel beigebracht über Leidenschaft und Freiheit, Güte und Hingabe. Sein letzter Satz war „Sperr die Tür zu“, das war in dem Moment so richtig, doch jetzt möchte ich die Türen ganz weit aufmachen für alle Möglichkeiten, die das Universum bereithält. Für andere da sein, im Wissen um die Endlichkeit nicht mehr zu viele Stunden vergeuden mit Nichtigkeiten – und darauf vertrauen, dass sich immer irgendein Weg findet, auch wenn man vielleicht gerade im Dunkeln tappt. Die Zukunft macht das schon. //
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