von Sven Schlebes
Wissen Sie, wie das Neue in die Welt kommt? Woher Geschichten kommen, Melodien, Muster und Motive? Seit Jahrzehnten versuchen Wissenschaftler dem Geheimnis der Kreativität auf die Spur zu kommen, Kompetenzübersichten und Trainingsworkshops sollen helfen. Aber bisher habe ich nur eine Muse getroffen, die mich wirklich innig küsste und mir praktische Tipps an die Hand gegeben hat: Und das war keine selbstbefreite Künstlerin, sondern ausgerechnet eine Nonne.
Mary Corita Kent, Schwester im Orden Sisters of the Immaculate Heart of Mary, unterrichtete bis 1968 im Immaculate Heart College in Los Angeles. Befreundet mit wahren Giganten der „schönen Künste“ wie Alfred Hitchkock, John Cage, Saul Bass, Buckminster Fuller sowie Charles und Ray Eames wirkte sie selbst als sogenannte schaffende Pop-Art-Künstlerin und schuf Werke von Bedeutung. Worauf es ihr jedoch wirklich ankam, war die Weckung des Künstlers im Menschen im „immaculate heart“. Und deshalb war sie nicht Künstlerin von Beruf. Sondern vor allem Lehrerin.
Den Kunstbegriff verengte die Nonne nicht auf das rein kreative Schaffen am konkreten Werk. Sie öffnete den lateinischen Ursprungsbegriff „ars“ und entblößte die für sie zentrale Bedeutung: Erschaffen durch Verbinden. So machte sie den lebendigen Geist der Kunst nutzbar für alle weiteren Lebensbereiche auch außerhalb der klassischen „schönen bildenden“ Künste und entdeckte im inneren Leuchten einer beseelten Welt den großen Künstler, nämlich Gott selbst sowie das Leben als dessen Kunst.
Kein Wunder, dass ihre eigentlich für Kunststudenten entworfenen 10 goldenen Regeln schon bald auch auf die grundsätzliche Lebensführung übertragen wurden: Lebe und liebe! Aber vor allem: Mach! In kleinen Schritten. Immer wieder. Und gib bloß nicht auf.
Für Corita Kent geht es in der Kunst nicht um richtig oder falsch, das Warten auf die große Idee oder das richtige Motiv, sondern um das einfache Machen. Und genau diesen Prozess hat die Pop-Art-Nonne in acht einfache, unterschiedliche Schaffens-Phasen eingeteilt. Wer ihnen folgt, hat nicht nur die Chance, einer Menge an Ideen zu begegnen. Sondern vor allem auch sich selbst.
Entscheidend für jeden Anfang: Die richtige Haltung. Kein Richtig oder Falsch. Kein: „Das ist jetzt Kunst.“ Sondern: Wir machen es so gut wie wir können. Das befreit vom Druck und ermahnt zugleich: Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Aber wer danach beim Weitermachen nachlässt in seinem Eifer, der „versündigt“ sich an sich selbst und seinem Potenzial. Für Corita Kent ist das Erschaffen ein Prozess der Begegnung mit sich selbst, dem Geist und den Dingen in der Welt. Und diese Begegnung sollte getragen sein durch Neugier, Offenheit und eine Verbundenheit, die sie gerne „Liebe“ nennt: „Loved for its own sake.“
Das Universum ist unendlich. Doch wir nehmen nur wahr, was in unserer inneren Vorstellung auch existiert. Um zu beginnen, rät Corita Kent, sich umzuschauen und dort zu stoppen, was uns stört. Ausgerechnet bei dem, was uns Unbehagen schenkt. Das kann ein Geruch sein. Eine Farbe. Ein Moment. Hier liegt die Tür zu einer vielfältigeren Welt, die es für uns nicht gibt, weil wir es nicht wahrnehmen können: Blinde in einer großen Welt. Die Neuentdeckung ist eine Herausforderung und wird für uns nicht als „barrierearm“ erlebt. Die gute Nachricht: Durch das Einlassen auf und das Zulassen von wird eine Begegnung möglich. Und selbst Bekanntes entfaltet seine unerkannten oder veränderten Seiten: „Nothing is the same.“
Nicht nur jeder Mensch ist für Corita Kent ein Künstler. Auch alles, was ist, kann eine Quelle für das Neue sein. Es gibt nichts, was nicht wert oder fähig ist, Beginn einer großer „Geistes-Geburts-Reise“ zu sein: „Anything that comes your war, inculding the work of an artist, is a place for starting.“ Um zu beginnen, empfiehlt Corita Kent das Brainstorming: Das Niederschreiben / Sammeln von Ideen, die kommen – ohne Bewertung. Was zählt ist die reine Menge der Ideen. Schließlich ist die Natur der Kunst von Haus aus verschwenderisch.
Segen und Fluch sind sie. Auch Corita Kent mag Grenzen nicht. Aber, ganz Nonne schätzt sie doch deren Potenzial. Strukturen sind eine Art der Begrenzung, die Dingen eine Existenz erst ermöglicht, weil sie ihnen Gestalt geben. Ohne Körper bliebe der Geist „nicht von dieser Welt“. Wir selbst sind durch unsere Persönlichkeit die Begrenzung für eine Idee. Sie kommt in ihrer Vielfalt daher, sucht sich uns als Musenkusspartner. Und muss feststellen: „ Wenn ich durch diese Person zur Welt komme, muss ich 99% meiner Möglichkeiten zurücklassen.“ Heißt: Hätte dieselbe Idee eine andere Person als Geburtshelferin: Sie käme anders zur Welt. Und so haben Sie Mitleid mit sich, aber glauben Sie an den Wert Ihrer eigenen Begrenztheit.
Ihr ureigenstes Ziel als sogenannte „Lehrerin“ sieht Corita Kent darin, andere darin zu unterstützen, leuchtende, hart arbeitende und mit einer reichen Vorstellungskraft gesegnete Menschen zu werden: „Bright, hardworking, imaginative people.“ Der Schlüssel hierzu: Die Bereitschaft, neue Verbindungen einzugehen. Nicht das Abschotten schafft das Neue, sondern die Begegnung. Das wissen Biologen: Sex does it. Und das weiß der Künstler: Neues braucht die gegenseitige Befruchtung.
Eine Schlüsselphase für jeden Macher. Das Finden des richtigen Werkzeugs, seine Idee und sein Kunstwerk (Kontextualität). Kent selbst liebte das Spiel mit den Worten. Sie zerlegte sie in einzelne Buchstaben, spielte mit der Typografie und ließ die Formen miteinander neue Bedeutungen aushandeln. Als Form und als Essenz. Das freie Spiel in gewählter Zeichenform-Limitation. Corita Kents große Empfehlung: Wage auch die abwegigen Werkzeuge und spiele das Experiment sauber durch. Erst am Ende wirst du erkennen, ob es funktionierte.
Liebe mit innerer und äußerer Notwendigkeit zusammenzubringen, das ist für Kent der Weg zum Himmel. Erst wenn das, was gebraucht und benötigt wird, auch geliebt werden kann, ist der Sinn des Spiels des Lebens erfüllt. Erfinder und Erschaffer wissen: Bis etwas funktioniert, ist es ein Ausprobieren. Ein Wegwerfen. Ein Hinzufügen. Neu-Arrangieren. Ein Spiel mit den Dingen, das mal leicht sein kann und mal schwer, und doch eine Arbeit ist. Die Arbeit am Verdichten und Zur-Welt-Bringen. Enttäuschung gehört dazu und das gesamte Spektrum menschlicher Empfindung. Ein Spiel. Eine Arbeit. Und beides fließt zusammen.
Für viele von uns ein Selbstzweck: Das „Ab“feiern. Für Corita Kent Auftrag, Abschluss und Transformationsstufe in einem. Ihre eigene Marienfeierlichkeit im Orden jährlich zu erneuern und in die der Zeit angemessene Formen zu übertragen, war die Krönung ihrer Arbeit. Jegliches Wirken des zurückliegenden Jahres mit den Studierenden floß hier ein. Damit war die Feier eine Feier der Jahresarbeit und zugleich als Format Katalysator für etwas Neues. Eine neue Feierlichkeit. Den Karnevalisten unter uns nicht unsympathisch: Zur Abschlussfeier gehört die Asche dazu. Denn ein Phönix braucht nun mal sein Feuer. Ohne Ende, kein Anfang. Und kein neues Leben. Und das, so haben wir es gelernt, ist ja am Ende: unendlich.
Hints: Always be around. Come or go to everything. Always go to classes. Read anything you can get your hands on. Look at movies carefully, often. Save everything – it might come in handy later.