Zwischen Dürresommer und Wutwinter

Wie lebt man richtig jenseits einer heilen Welt, mit sich selbst und allen anderen? Die Psychologin Susanne Altweger verrät, was Menschen in schwierigen Zeiten trägt.

von

4/2022

O

bjektiv gesehen legt der Homo Sapiens eine Erfolgsgeschichte vor. Er ist Sieger der Evolution, er hat sich durchgesetzt – so perfekt, dass sein übergroßer Fußabdruck auf der Erde zum Problem geworden ist.

Menschen sind fähig zu unglaublichen Kulturleistungen, die Kunst gibt seit der Steinzeit bis heute Zeugnis davon. Auf der anderen Seite ist die Menschheitsgeschichte eine unendliche Abfolge von Krieg, Eroberung, Zerstörung und Brutalität. So, als würde Kain täglich über Abel siegen. 

Das Leben der meisten Menschen in unserem Land aber handelt von etwas anderem: von Menschlichkeit, Liebe, von Familie, Nachbarschaft und Zusammengehörigkeit. 

Und doch hat die Welt Risse erfahren. Der erste große Riss, an der Schwelle des 21. Jahrhunderts, traf New York am 11. September 2001: die Zwillingstürme und damit über 3000 Menschen fielen einem islamistischen Attentat zum Opfer. Danach war die Welt eine andere. Terror gehört seitdem zum Alltag – in allen Teilen der Erde. 2015 brachte die Flüchtlingskrise Deutschland an seine Grenzen. Eine wirkliche Erholung kam nicht mehr, dafür kam Corona, eine Herausforderung, die an Pest und Cholera erinnerte und zu ungewöhnlichen Maßnahmen führte. Zwei Lockdowns stürzten viele Menschen in persönliche Krisen: Plötzlich fehlte, was wichtig ist im Zusammenleben: Nähe, Umarmung, Austausch. Anfang dieses Jahres war der nächste Horror geboren: der russische Angriffskrieg in der Ukraine mit vielen Toten und bis heute unberechenbaren Folgen, über den auch ein Sommer nicht hinweghelfen konnte, ein Sommer, der eine ungeahnte Dürre mit sich brachte. Und die Aussichten für den Winter? Können jeden Tag in den Nachrichten abgehört werden.

Die Einschläge folgten zu dicht aufeinander, die Zunahme von seelischen Erkrankungen, vor allem Depressionen, soll seither um 15 % gestiegen sein.

In dieser Gemengelage versuchen die Menschen sich mehr schlecht als recht zurechtzufinden. Warum gelingt es den einen, optimistisch zu bleiben, während andere in Hoffnungslosigkeit versinken? Das Zauberwort heißt Resilienz, also die Widerstandskraft des Menschen gegen die Widrigkeiten des Lebens. 

Als Individuen reagieren Menschen unterschiedlich auf Stress und Belastungen. Viele sind gut im kompensieren – von ihnen sollte man lernen. Der Schriftsteller Ernest Hemingway stellte in seiner Nobelpreis-gekrönten Novelle Der alte Mann und das Meer fest: „Man kann zerstört werden, aber man darf nicht aufgeben.“ Sein Protagonist, der Fischer Santiago wollte, nachdem ihm die Haie von seinem großen Fang nur das Skelett des Fisches ließen, wieder hinausfahren aufs Meer, um sein Glück erneut zu suchen. Nicht jeder Mensch verfügt über solche Widerstandskräfte, aber vieles kann helfen bei der Bewältigung von seelischen Belastungen. Dazu gehören Rituale, Selbstreflexion und der Glaube an eine höhere Macht. Ebenso förderlich sind soziale, persönliche Netzwerke, Achtsamkeit im Alltag und die Hinwendung zur Natur. Kraftvolles Ausschreiten im Wald funktioniert seit jeher als Quelle des Wohlbefindens. Als die klassischen Säulen der Resilienz gelten Optimismus, Akzeptanz, Lösungsorientierung, Abschied von der Opferrolle, Verantwortung für das eigene Leben und sinnvolle Netzwerke. Und da wäre die Allzweckwaffe schlechthin: Humor! Wer lacht, lebt gesund. Sauerstoff dringt in die Lungen, die Gesichtsmuskeln gehen nach oben, ebenso wie die Laune. Selbst Albernheiten können hilfreich sein. 

Den meisten Schaden richtet das Verharren in einer Opferrolle an: „die da oben entscheiden, ich kann sowieso nichts tun.“ Falsch! Jeder kann etwas tun: zum Beispiel sich politisch oder mitmenschlich engagieren. Wer Essen ausfährt bei der Tafel, stellt sich schlimmen Tatsachen, erfährt aber auch das Gefühl von Nützlichkeit und Sinn. Überhaupt bringt ein Ehrenamt resilienzfördernde Umstände mit sich. Da treffen ähnlich gesinnte Menschen aufeinander – mit einem gemeinsamen Ziel. Unbedingt empfiehlt sich ein maßvoller Umgang mit Medien. Sich von früh bis spät mit negativen Bildern aufzuladen fördert nicht die Empathie, sondern die Abstumpfung. Um informiert zu sein, genügt ein Blick über die Print-Medien oder eine Viertelstunde Fernsehen. Und unbedingt das Smart-Phone zwischendurch ausschalten, um die ständige Erreichbarkeit zu stoppen. Hilfreicher ist ein gutes Buch, Tagträume und die Pflege der „Ferien vom Ich.“ Ja, das ist Eskapismus – aber er dient der Seele. 

Negative Gedankenüberschwemmungen und Angst können von Dankbarkeitsübung gebannt werden: sich jeden Tag bewusst machen, was im eigenen Leben bisher schön und gut war. Wer dankbar ist, empfindet meist auch Empathie für seine Mitmenschen – eine gute Prophylaxe gegen Verzweiflung.  //

Dr. Susanne Altweger ist Dipl. Psychologin, Coach und
Regisseurin in Neuss

Foto: NRD / unsplash