Wir
können
nicht
alles
erklären

von

Sibylle Anderl ist promovierte Astrophysikerin und Philosophin, Wissenschaftsjournalistin, Buchautorin und – Katholikin. Ein Gespräch über das Unerklärliche des Universums, Dunkle Materie und die Schönheit des Sternenhimmels.

5/2022

Foto: Stephanie Bothor

Wir schauen in den Himmel und schauen in die Vergangenheit. Nichts, was wir am Himmel sehen, ist das, was zeitaktuell geschieht. Können wir irgendwann auch in die Zukunft sehen?

Wir sehen in die Vergangenheit, weil das Licht eine gewisse Zeit benötigt, um uns zu erreichen. Je weiter der Weg, den es zurückgelegt hat, desto länger hat es dafür gebraucht und desto weiter schauen wir zeitlich zurück. Für uns Astronomen ist das ein großes Glück, denn so können wir die Entwicklung des Universums und der in ihm existierenden Phänomene direkt beobachten. In die Zukunft können wir auf diese Weise leider nicht sehen. Die Vergangenheit ist als die Menge der Ereignisse definiert, die uns kausal beeinflussen können. Das, was geschehen ist, hat eine Wirkung auf uns. Die Zukunft besteht dagegen aus den Ereignissen, die von uns kausal beeinflusst werden kann, ohne dass das umgekehrt gilt. Wir können Zukünftiges verändern, aber die Zukunft hat keine kausale Wirkung auf uns. Das bedeutet aber gleichzeitig auch, dass uns aus der Zukunft prinzipiell keine physikalischen Signale erreichen können.

Fünf Prozent des Universums bestehen aus atomarer Materie, 95 Prozent bleiben im Dunkeln. 26 Prozent des Weltalls sind Dunkelmaterie, die sich der Forschung bislang entzieht. Zwei Drittel des Universums bestehen aus einer vermuteten Dunkelenergie. Damit ist das Universum vor allem Dunkelmaterie. Was wir sehen, ist der kleinste Teil des Lebens. Was wartet im Dunkeln auf uns?

Obwohl wir heute nicht wissen, was sich hinter der Dunklen Materie verbirgt, kennen wir zumindest einige Eigenschaften dieser rätselhaften Phänomene. Dunkle Materie heißt so, weil sie nicht mit Licht wechselwirkt. Sie erzeugt aber ein Gravitationsfeld, und dessen Wirkung können wir beobachten: Es hält Galaxien und Galaxienhaufen zusammen und hat in der Geschichte des Universums geholfen, die Strukturen entstehen zu lassen, die wir um uns herum beobachten. Was wir nicht wissen ist, aus welcher Art von Elementarteilchen diese Dunkle Materie besteht, obwohl wir seit Jahrzehnten versuchen, diese Frage zu beantworten. Im Prinzip könnte es auch sein, dass hinter der Dunklen Materie etwas ganz anderes steckt als ein neues Elementarteilchen, dass sie vielleicht Hinweis auf ein anderes Gravitationsgesetz ist. Aber das wissen wir bisher noch nicht. Die Dunkle Energie dagegen bewirkt, dass sich das Universum beschleunigt ausdehnt. Es muss also ein uns noch unbekanntes Energiefeld sein, über das man noch weniger weiß als über die Dunkle Materie. Was uns im Dunkeln letztendlich erwartet, wissen wir also noch nicht. Vielleicht etwas, das im Großen und Ganzen unseren Erwartungen entspricht, vielleicht aber auch der Ausgangspunkt zu einem neuen kosmologischen Modell. 

Braucht die Astrophysik die Philosophie, um dem Rätsel des Universums näher zu kommen. Und auch umgekehrt?

Die Philosophie schließt sich an praktisch alle wissenschaftlichen Disziplinen nahtlos an. Erstens liefert sie die nötigen begrifflichen Werkzeuge, die man für die Reflexion des eigenen Faches braucht und für die Beantwortung der Frage, wie es gelingt, belastbares Wissen über die Welt zu generieren. In der Physik und Astrophysik kommen dazu die verwandten metaphysischen Fragen: Was sind Raum und Zeit? Woraus besteht die Welt? Warum ist sie genau so, wie wir sie vorfinden? Im Fall der Astrophysik kommt dazu die historisch enge Verknüpfung zu philosophischen Fragen zu unserer menschlichen Stellung in der Welt. Von der Astrophysik kommt man daher sofort in die Philosophie hinein. Und andersherum kann die Philosophie die Erkenntnisse der modernen Forschungsdisziplinen nicht ignorieren, wenn sie zu verstehen versucht, wie wir Menschen die Welt erschließen und was all das wiederum für uns Menschen bedeutet. Die Antwort ist also: Ja, beide brauchen einander letztendlich.

Sie forschen an der Sternenentstehung? Was fasziniert Sie an Sternen?

Die Sonne als unser Heimatstern bestimmt unsere Existenz und unser alltägliches Leben. Sie ist gewissermaßen unsere direkteste Verbindung zu allen kosmischen Gegebenheiten. Dass wir heute wissen, dass die Sonne ein relativ normaler gelber Zwergstern in der Mitte seines Lebens ist, dass es sowohl masseärmere Sterne gibt als auch Sterne mit sehr viel größerer Masse, und dass wir dazu heute deren Lebenswege recht genau vorhersagen können, all das finde ich unglaublich faszinierend. Die wichtigsten Eigenschaften eines Sterns werden bereits bei dessen Entstehung festgelegt, genau wie auch die Bedingungen für die Entstehung von Planeten. Insofern ist die Sternentstehung ein besonders interessantes Forschungsthema.

Was bedeutet für Sie die Nacht als Astrophysikerin? Und was als Philosophin?

Ich bin Radioastronomin. Für meine Forschung habe ich mit langwelliger Strahlung gearbeitet, die wir Menschen nicht sehen können, und die von Teleskopen tagsüber genauso wie nachts empfangen wird. Daher haben die Tageszeiten für meine professionelle Tätigkeit keine besondere Rolle gespielt. Aber der Blick in einen klaren Nachthimmel ist davon unabhängig immer etwas ganz besonderes. Er erfüllt mich immer noch mit Demut angesichts unserer kosmischen Begrenztheit und mit Erstaunen, dass wir heute in der Lage sind, all das empirisch zu erforschen und zu beschreiben. Gleichzeitig wird man nachdenklich angesichts der großen Veränderungen der Weltbilder im historischen Verlauf der Zeit und der Frage, wie sich unser heutiges Weltbild dazu verhält.

Bitte beschreiben Sie uns den Unterschied zwischen der Nacht und der dunklen Materie. 

Nacht herrscht auf der sonnenabgewandten Seite der Erde, wenn also die natürliche hauptsächliche Lichtquelle fehlt. Trotzdem kann man Dinge sehen, wenn man alternative Lichtquellen nutzt, etwa eine Kerze anzündet, denn wir sind umgeben von „normaler“ Materie, die mit Licht interagiert und es etwa von Oberflächen zurückwirft. Dunkle Materie dagegen tut das nicht, sie ist nur „schwer“. Auf der Erde gibt es Dunkle Materie aber allenfalls in winzigen Mengen. Da sie stark klumpt sollte sie eher dort zu finden sein, wo bereits viel Materie zu finden ist, etwa im Inneren der Sonne.

Eigentlich müsste der Blick in den Himmel, sollte der Himmel unendlich sein und die Anzahl der Sterne auch, nachts voller Licht sein. Unendlich vielem Licht. Warum ist er das nicht?

Ja, das ist das berühmte Olberssche Paradoxon. Die Antwort ist kurz: Weil es vor 13,8 Milliarden Jahren einen Urknall gab und daher der Bereich des Universums, aus dem wir Licht empfangen können, keinesfalls unendlich ist. 

Nach Meinung der Psychologie soll der Mensch ebenfalls eine bewusste (helle) und eine unbewusste (dunkle) Seite haben. Das Universum ebenfalls. Was könnte daraus folgern?

Mit solchen Analogiebildungen ist es immer etwas schwierig. Die dunkle Seite hat ja nichts damit zu tun, dass es Anteile des Menschen gibt, die ungewöhnliche Eigenschaften in Wechselwirkung mit Licht haben. Und die dunkle Seite des Universums hat auf der anderen Seite keinerlei moralische Konnotation und keine Verbindung zu Bewusstseinsfragen. Aus solchen Vergleichen können wir also vor allem etwas über den menschlichen Versuch lernen, Erfahrungen und Beobachtungen aus unserem menschlichen Miteinander auf die uns umgebende Welt zu übertragen.

Wir können bis zu einem ursprünglichen Verdichtungspunkt des Universums in die Vergangenheit schauen, den Big Bang können wir nicht sehen. Und der Blick in die Zukunft ist komplett verwehrt, noch! Was sehen wir im Universum also?

Wir sehen immerhin die Spuren des Urknalls, die wir anders nicht erklären könnten. Insbesondere die sogenannte komische Hintergrundstrahlen, das Nachleuchten des Urknalls, entstanden nur 380.000 Jahre nach dem Urknall. Wir sehen insofern die gesamte Entwicklung des Kosmos über Milliarden von Jahren. Und das bringt uns eine Menge Erkenntnisse über das Universum.

Unser Leben ist so kurz, die astrophysikalischen Prozesse spielen sich über Jahrmillionen ab. Ist das nicht frustrierend für Sie als Wissenschaftlerin?

Einerseits ist das frustrierend, andererseits verfügen wir durch unseren Blick in die Vergangenheit über eine Menge „Schnappschüsse“ des Kosmos in verschiedenen Entwicklungsstufen. Diese zeitlichen Momentaufnahmen können wir auf der Grundlage unseres physikalischen Wissens zu Entwicklungssequenzen verbinden, so dass wir dann doch in der Lage sind, Prozesse über Millionen und Milliarden Jahre zu verfolgen, auch wenn wir sie nicht „live“ sehen. Davon unabhängig können wir froh sein, dass wir relativ zu dem stabilen Zustand unserer Sonne so kurz leben. Denn wie sie sich in einigen Milliarden Jahren zu einem roten Riesen aufbläht, wollen wir keinesfalls miterleben.

Sie haben als Doktorandin in der chilenischen Atacama-Wüste auf 5000 Meter ein Teleskop überwacht und dabei einen atemberaubenden Sternenhimmel erblicken dürfen. Haben Sie dabei einen Hinweis auf Gott gefunden? Oder es zumindest erhofft?

Nein. Ich habe dort tatsächlich nur astronomische Daten gesammelt ohne besondere Hoffnung auf göttliche Zeichen. Ich würde Hinweise auf Gott tatsächlich eher im Miteinander mit anderen Menschen erwarten statt in einer einsamen Wüste.

Sie sind Katholikin. Wie bekommen Sie Ihren Glauben und die Theorie des Urknalls zusammen? 

Ich finde, dass die Demut, die man angesichts der von uns erkennbaren kosmischen Ordnung erfahren kann, sehr gut mit einer Form von kosmischer Religiösität zusammenpasst, wie sie etwa Einstein beschrieben hat. Physiker würden außerdem nie behaupten wollen, alles erklären zu können, was unserer menschlichen Welt geschieht. Die Naturwissenschaften lassen genügend Raum für Sinn- und Bedeutungsfragen.

In der Wissenschaft, aber auch in der Weltanschauung gibt es nur vorläufige Wahrheiten. Werden wir der „Wahrheit“ je auf die Spur kommen?

Es ist zunächst immer wichtig festzustellen, dass unsere empirisch erlangten „vorläufigen Wahrheiten“ trotz ihrer Vorläufigkeit in hohem Maße zuverlässig sind. Mit einem erkenntnistheoretischen Relativismus kommen wir nicht weit. Eine Wahrheit im absoluten Sinne werden wir aber natürlich nie erreichen, denn wir erkennen die Welt immer als zeitlich geprägte Menschen.  //