Und wenn uns nichts mehr heilig ist, diese Nacht ist es und bleibt es! Und wenn uns Nachtgeschichten wahlweise albern oder gruselig vorkommen, diese „Nachtgeschichte“ ist und bleibt Kulmination und Fixstern, da hört der Spaß buchstäblich auf, in der Heiligen Nacht steht alles still und ist jeder still.
Warum nur? Wo wir doch ganz ungern „stillstehen“, wo sich doch alles immer und immer schneller bewegen soll, Aktion, Tempo, Rasanz. Die Sottise „Stillstand ist Rückschritt“ hat es auf jeden billigen Kalender, vor allem aber in jedes schlechte Führungskräfteseminar geschafft. „Die Welt steht still“: wann hören wir, wann empfinden wir das sonst? Wenn die ganz Großen gehen wie der heilige Papst Johannes Paul II oder in diesem Jahr die ewige Elizabeth II: dann steht die Welt „für einen Moment“ still.
Für einen Moment, ja, aber für eine ganze Nacht? Was ist das Besondere, das offenbar einzigartige an dieser „Nachtgeschichte“? In einer Welt, die den Begriff „Storytelling“ geprägt hat, um unseren gierigen Hunger nach immer neuen Geschichten, nach immer rasanteren Wendungen und immer skandalöseren Skandalen zu bemänteln, reicht uns plötzlich diese eine, diese immer wiederkehrende, stets gleichbleibend einfach erzählte Geschichte der stillen Nacht.
„Ein römischer Kaiser lässt eine Volkszählung durchführen. Deshalb müssen alle Menschen des Reiches an ihren Geburtsort wandern, um sich eintragen zu lassen. Auch Joseph und seine schwangere Frau Maria müssen reisen, von Nazareth nach Bethlehem. Doch dort gibt es nirgendwo mehr eine Unterkunft. Ein Wirt stellt ihnen seinen Stall zur Verfügung, und hier bekommt Maria ihr Baby. Sie wickelt es in Windeln und legt es in die Futterkrippe. Ochse und Esel stehen daneben. Nachts auf dem Feld hüten Hirten ihre Schafe. Ihnen erscheint ein Engelschor, der ihnen die Geburt des Sohns Gottes verkündet. Die Hirten laufen nach Bethlehem und finden Maria und Joseph und das Jesuskind. Auch drei weise Männer aus dem Orient erfahren über die Sterne von der Geburt des göttlichen Kindes und machen sich auf den Weg, um ihm kostbare Geschenke zu bringen: Gold, Weihrauch und Myrrhe“.
Die professionellen „Storyteller“ unter uns werden fragen: das ist alles, das sollen wir glauben? Da fehlt Rasanz, Tempo, Action. Und wo ist der Skandal, das ist ja nur normaler Alltag. Zwei Menschen wandern zu einer Volkszählung, das ist demokratischer Alltag. Sie finden keine Unterkunft, das ist beklagenswerter Alltag in Deutschland, eine Futterkrippe muss als Babybett herhalten, das ist so skurril, dass man es nicht erfinden kann, das muss auch Alltag sein, Schafe hütende Hirten sind gern genommener Motivalltag von Capar David Friedrich. Ein Engelschor und drei weise Männer ist Märchenalltag. Und Gottes Sohn? Ja, das ist guter Stoff, aber eher für den alltäglichen Größenwahn der Storyteller.
Bei jeder anderen Nachtgeschichte würde es die Geschichtenerzähler unter uns in den Fingern jucken, sie nach diesem Muster ordentlich zu „skandalisieren“, die Personen zu „problematisieren“, die Story zu „dramatisieren“ und die Handlung zu „charakterisieren“.
Nur hier nicht, nur bei dieser einen Nachtgeschichte nicht: weil das Besondere, das einzigartige eben gerade nicht das Größenwahnsinnige, das Überdrehte ist, sondern das Einfache, das alltägliche. Diese Nacht ist eine gute Nacht, weil sie plötzlich ihren Schrecken verliert, die Dunkelheit umfängt uns und bedrängt uns nicht länger, in dieser Nacht kommen wir zur wirklichen Ruhe und wälzen uns nicht mehr hin und her, in dieser Nacht spüren wir endlich Geborgenheit, in dieser Nacht strahlt ein Stern und macht sie hell.
Dieses Empfinden ist uns in diesem Jahr mehr denn je heilig, kommend von immer bedrohlicher empfundenen Nächten von Krieg, Hunger, Sorgen, Kälte und Elend. Das alles soll einmal im Jahr „stillstehen“, wir wollen einmal still werden, einmal nur hinhorchen auf die Botschaft dieser einzigen Nacht: „Heut ist euch der Retter geboren“! //