Zu
Atem
kommen

Der ehemalige Manager Andreas Crüsemann arbeitet heute als Therapeut und Coach – nachdem ein Unfall sein rasantes Leben jäh ausgebremst hatte. Ein Gespräch über das Davor und Danach.

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1/2023

Das menschliche Leben spielt sich ab zwischen dem ersten Ein- und dem letzten Ausatmen, dies ist eine der wenigen, gesicherten Erkenntnisse über das, was Leben ausmacht.

Bis zu 700 Millionen Mal, je nach Länge der irdischen Existenz, atmet ein Mensch – und tut es meist unbewusst. Zunehmende Atemwegs- und stressbedingte Erkrankungen erfordern eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Thema. Das weiß nicht nur der Essener Andreas Crüsemann, der seit einigen Jahren Klienten in die Geheimnisse der richtigen Atmung einweist, ist sie doch die einzige Organfunktion, die der Mensch selbst beeinflussen kann – und es auch sollte.

Wie kommt ein „Macher“ dazu, Atemtherapeut zu werden, wie an einen solch seltenen Beruf, der ja eher eine Berufung zu sein scheint?

Andreas Crüsemann ist ein freundlicher Mann mit einem offenen Gesicht. Lässt man ihn auf sich wirken, zeigen sich schnell besondere Merkmale: eine sehr feine Wahrnehmung, Dünnhäutigkeit und kreativer Spürsinn – durchtränkt von Strenge gegen sich selbst und Nachsicht gegenüber anderen. Eitel ist er nicht, aufmerksamkeitsbedürftig schon.

Er tickt anders als die meisten seiner Mitmenschen, sanfter, sensibler, beinahe hochsensibel.

Kaum zu glauben, dass dieser Mann 30 Jahre lang mit Karacho durchs Leben stürmte, in dem es jahrelang, abgesehen von winzigen Rückschlägen, immer nur aufwärts ging. Bis ihn ein Fehltritt zu Fall brachte und letztlich zu diesem bewussteren Lebensweg führte. 

„Es war das Beste, was mir passieren konnte“, sagt er heute. Um diesen Satz zu verstehen, muss man zu den Anfängen: Andreas Crüsemann entstammt einer alten Industriellenfamilie, Großvater und Vater leiteten ein Essener Stahl-Unternehmen, das erst mit der Kohlekrise unterging. „Entsprechend leistungsorientiert wurde ich erzogen.“ 

Nach dem Abitur macht er eine Banklehre, merkt schnell: Das ist es nicht. Er will etwas anderes, sich vor allem ausprobieren. Mit ererbtem Geld und einem Partner eröffnet er in der Essener Innenstadt einen Krawattenladen: „Alle hielten mich für bekloppt.“

Und weil er alles richtig machen will, studiert er nebenher Wirtschaft, macht einen zweiten Laden auf, heiratet mit 25, um bald danach Vater zu werden.

Sein Name und seine Umtriebigkeit garantieren ihm eine Bühne in Essen – eine Form der Aufmerksamkeit, die er braucht, die er genießt. 1991 übernimmt er die Betriebsleitung des neu eröffneten Cinemaxx mit 180 Mitarbeitern, dem bis heute größten Multiplex-Kino Deutschlands. Seine Karriere nimmt Fahrt auf, drei Jahre später wechselt er ins Essener Stadtmarketing. „Ein politischer Job, den ich so nicht erwartet hatte.“ 60 Arbeitsstunden in der Woche, permanenter Stress und Auseinandersetzungen fordern ihren Tribut. Schon melden sich die ersten gesundheitlichen Probleme: „Ich hatte dauernd Erkältungen und warf mir Antibiotika ein, um weitermachen zu können.“

Dennoch übersiedelt der inzwischen zweifache Vater mit der ganzen Familie nach Berlin: im Cinemaxx am Potsdamer Platz, dem heutigen Berlinale-Kino, läuft er nur noch mit Anzug und Krawatte herum, „Ich machte sofort ungewöhnliche Dinge: ließ Filme im Originalton laufen, vermietete das Kino für Großveranstaltungen, und plötzlich liefen Diplomaten im Hause herum, das Kino war total angesagt.“

Crüsemann auf Adrenalin! Auch der nächste hochbezahlte Job als Marketing- und Vertriebschef lässt ihm kaum Luft zum atmen: Er reist kreuz und quer durch die Republik, arbeitet wie ein Berserker nächtelang durch. 

Bei einem solchen Tempo scheint ein Stoppschild so unausweichlich wie der Gong im Kino, bevor der Film beginnt. 

Doch das Stoppschild übersieht Crüsemann: es ist eine fehlende Bodenplatte in der Baden-Badener Fußgängerzone, die er, mit Kollegen plaudernd, achtlos durchhastet, nachdem er zuvor einen Vortrag beim Filmtheater-Kongress gehalten hat. Mitten im Fachsimpeln fällt er in dieses Loch – sprichwörtlich.

„Da lag ich auf dem Boden im Schockkrampf, die Brille hatte sich sofort ins rechte Auge gebohrt, meine Kollegen vermuteten eine Herz-attacke oder eine Gehirnblutung.“ 

Erst in der Notaufnahme kommt er wieder zu sich, es ist Frühling 2013. 

Dann das große Aufatmen: Herz und Kopf ticken weiter wie gewohnt. Am nächsten Tag darf seine Frau ihn nach Hause holen.

Vier Wochen später fangen die Symptome an: Er baut ab, funktioniert nicht mehr wie früher. Und sein Sehvermögen ist eingeschränkt. Die Makula, der schärfste Punkt des Sehens, platzt erst auf dem rechten, ein Jahr später auf dem linken Auge. Er droht zu erblinden. Immerhin glücken die Operationen. Er sieht zwar noch Doppelbilder wie auf einer welligen Leinwand, sein Gesichtsfeld ist eingeschränkt, aber er sieht!

„Der liebe Gott hat es gut mit mir gemeint“. Ein solcher Satz ist keine Floskel bei Andreas Crüsemann. Er ist gläubiger Christ mit einer katholischen Mutter, einem evangelischen Vater und einer apostolischen Ehefrau, Gott und Kirche sind feste Größen in seinem Leben. Als Crüsemann sich im Kampf mit Versicherungen und Gutachtern aufzureiben droht, sein Augenarzt schwere Rückfälle diagnostiziert, bricht er zusammen. „Ich sackte in mich, um mich wurde es dunkel, so geht wohl ein Nervenzusammenbruch.“

Panikattacken, Beinkribbeln und Schlaflosigkeit martern ihn und ängstigen seine Familie. Nach einer Odyssee durch die weite Welt der oft ahnungslosen Ärzteschaft bescheinigt ihm ein erfahrener Seelendoktor, was Crüsemann wohl selbst fühlt: eine schwere Depression. 

Acht Wochen wird er in einer psychosomatischen Klinik behandelt, auch mit Antidepressiva. Sein Chef steht hinter ihm, hofft auf eine baldige Rückkehr seines besten Mannes.

Auch Crüsemann sehnt sich zurück in seinen Job. Doch Körper und Seele versagen ihm den Dienst. Die schweren Medikamente haben ihm einen Tinnitus beschert, er kann nicht Autofahren, muss sich überall festhalten – funktioniert einfach nicht mehr so, wie es von einer Führungskraft erwartet wird. Nach ein paar Monaten ist der Job Geschichte.

„In jedem Schlechten liegt etwas Gutes,“ sinniert Andreas Crüsemann in den Nachmittag hinein. „Ich glaube an göttliche Fügung, habe noch ein paar Dinge vor im Leben.“ Und damit hat er längst begonnen. Hat sich über drei Jahre hinweg in Berlin zum Atemtherapeuten ausbilden lassen. Seine Mutter, in diesem Beruf geschult, hatte ihrem Sohn früh als Probanden den Zugang ermöglicht. In Essen gibt Crüsemann heute Kurse, Einzelbehandlungen für Klienten und hält Vorträge zum Thema.

Eine weitere Fortbildung befähigt ihn, an der Volkshochschule Deutsch zu unterrichten und Migranten für einen Job zu coachen. „Unser System ist ja leider darauf ausgerichtet, sie in Sozialsysteme zu schieben. Ich will sie aber im Job sehen, schließlich müssen sie meine Rente zahlen.“

Die Depression, das Leiden an der Seele, hat ihn im letzten Jahr noch einmal erwischt. Neun Wochen Klinikaufenthalt, Antidepressiva und Gruppentherapie bestimmten sein Leben, und es steht zu befürchten, dass er diese Krankheit so ganz nicht loswerden wird. Weswegen er sehr offen mit ihr umgeht. „Ich habe halt diese Erkrankung, bin für jedes Unternehmen ein Risikofaktor. Deswegen muss ich selbstständig arbeiten.“

Crüsemann, der Manager, kann heute auch Kümmerer, ein Kümmerer, der zu beeindrucken weiß. „Meine große Stärke, glänzen zu können, ist gleichzeitig meine größte Schwäche.“ Auf eine nicht ganz ungefährliche Mehrfachfunktion hat er sich eingelassen, doch ist die Unentschiedenheit seiner Existenz gewollt, passt in eine Zeit der Unsicherheiten und Krisen.

Nur, dass er jetzt kein Getriebener mehr ist, sein Leben und dessen Tempo selbst bestimmt, mehr Familie leben und auf Frühwarnzeichen genau achten kann. Sein Tinnitus warne ihn: „Sobald das Piepen im Ohr lauter wird, schalte ich einen Gang zurück.“

Vielleicht muss er den Manager und den Kümmerer noch mehr in sich aussöhnen. Dabei hilft ihm seine Hinwendung zur Natur, im Essener Stadtwald lädt er Menschen zu sogenannten „Atemspaziergängen“ ein. Auch das Künstlerische habe immer in ihm geschlummert und wäre wohl die bessere Wahl gewesen. Ihm wolle er sich jetzt mehr zuwenden, sagt er.

Dann wird sein Gesicht zu einem Ausrufezeichen: „Meine Kinder lieben mich, meine Frau liebt mich, was will ich mehr?“ Wer so fragt, will mehr, entschieden mehr. Und das ist gut so, vor allem, weil der Mann erst Mitte fünfzig ist. 

 Crüsemann macht weiter, Crüsemann, die Marke ist noch ausbaufähig. Jetzt erst recht. So oder ähnlich versteht er sein Leben, seine Suche nach Wahrheit. Die, so ahnt er, zeigt sich nur in der Liebe.  //

Foto: Tillmann Franzen