Ein neuer Morgen

von

Wegducken ist nicht mehr. Zu groß sind die Herausforderungen, als dass ein „Mal sehen, was kommt“ der Welt, ihren Fragen und uns Menschen gerecht werden kann. Zeit, wieder Verantwortung zu übernehmen. Auch für das eigene Gottesbild. Die vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin Nora Bossong hat sich aller berechtigter Kritik an der katholischen Kirche zum Trotz in diesem Jahr in das Zentralkomite der deutschen Katholiken (ZdK) wählen lassen. Damit folgt sie ihrem eigenen Credo: „Lasst Gerechtigkeit walten und versucht es immer wieder. Es lohnt sich.“

3/2021

„Als alle Dinge in der Mitte des Schweigens waren“, heißt es im Buch der Weisheit, „und die Nacht in ihrem Lauf die Mitte hielt ihrer Bahn, da stieg Dein allmächtiges Wort, o Herr, aus dem Himmel herab von seinem königlichen Thron.“ Es ist Weihnachten, als Nora Bossong die Bibel zitiert, um ihr ganz besonderes Corona-Gefühl für die Wochenzeitung DIE ZEIT auszudrücken. Aus der Stille kommt Gott. Oder viel mehr. Sein Wort. Als Stellvertreter. Wirkkraft und Umsetzer. So poetisch. So gut: Frohes Fest. Allein vom Weisheitsspruch 18, Vers 14/15 fehlte hier der Rest: „[…] herab von seinem göttlichen Thron als harter Krieger mitten in das Land des Verderbens. Es trug als scharfes Schwert deinen unerbittlichen Befehl, trat hin und erfüllte alles mit Tod; es berührte den Himmel und stand auf der Erde.“

Wäre Bossong bloß eine der zahlreichen weiteren Schreiberinnen unseres Landes, könnte der bildungsbürgerliche Leser am Satzende den sichtbaren Punkt für gesetzt nehmen und sich mit einer berührenden Weihnachtsanalogie zufriedengeben: „So wunderbar. Wie immer: Wort, Fleisch, Sohn. Perfekt. Die Bossong – eine von uns.“ Selbstbestätigungsliteratur. Doch im Herzen ist Bossong freie Lyrikerin (Reglose Jagd, 2007; Kreuzzug mit Hund, 2018), Meisterin der effizienten Sprache und damit eine wie keine. Was sie tut, macht sie bewusst. Sie schreibt. Sie lässt weg. Kommuniziert mit beidem. Und das hat Auswirkungen. Auf allen Ebenen des Wortes. Zweidimensional im konkreten Textumfeld: Alltags- und Gefälligkeitsdiskurs. Talkshowniveau; Dreidimensional im Bezug zum Lesenden und seinem eigenen Leben: Reflexionsdiskus. Gymnasialfundament; Vierdimensional in der Geschichte seiner eigenen Verwendung und Gebrauchtheit: Kulturdiskurs. Universitätshoheit. Aber Bossong beherrscht eben auch die fünfte Dimension. Eine unsichtbare, unausgesprochene: die Welt der verwiesenen Wahrheit. Hohe Kunst. Das gesprochene Wort verweist auf das Nichtgesagte. Nicht als ihr bloßes Gegenteil im Sinne von Schwarz und Weiß. Sondern als prioritärer Ursprung und mögliche Weiterführung zugleich. Naturwissenschaftler bezeichnen die fünfte Dimension als Heimat der möglichen Paralleluniversen. Mystiker lieben es als Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeiten. Das Alles. Ruhend im noch allumfassenderen „Nichts“.

Das Nichts kennt Bossong nicht erst seit der Pandemie und mit ihr die Angst vor dem Ungefähren und der totalen Auflösung. Die 1982 in Bremen geborene Schriftstellerin ist Künstlerin mit jeder Faser ihres zerbrechlichen Körpers. Ihre Eltern trennten sich früh. Sie folgte ihrem Vater nach Hamburg, ihre Mutter blieb zurück in Bremen. Künstlern sagt man bekanntlich nach, sie seien nicht von dieser Welt. Also nicht nur von dieser. Sondern eben auch von jener. Ihre Ideen, ihre Gedanken kämen Geburtsvorgängen gleich über transzendente Brücken in das Diesseits zu uns Sterblichen. Der Preis dafür: Das ewige Dazwischen-Sein. Das Nicht-ganz-verstanden-werden. Die Verzweiflung an der Limitierung, der Schmerz der materiellen Realisation in ihrer irdischen Begrenztheit. Die Zerrissenheit. Die gefühlte Heimatlosigkeit. Eine ewige Wanderschaft. Das ist eine große Bürde, die nicht zuletzt in der Corona-Zeit voll als gefühlte Einsamkeit durchschlug: „Während Corona wurde es einsam um uns Nicht-Familien-Menschen. Alle zogen sich zurück in ihren kleinen Familienkontext. Durchkommen war das Motto. Da wurde es sehr leise. Sehr still. Sehr du.“

Zu Recht ist die Schriftstellerin bereits jetzt schon für ihr umfangreiches Werk mit zahlreichen Auszeichnungen bedacht worden, zuletzt mit dem renommierten Joseph-Breitbach-Preis, dem Wilhelm-Lehmann-Preis und dem Thomas Mann Preis 2020. Zahlreiche Laudatorinnen und Laudatoren loben nicht nur ihren Scharfsinn, ihr Eintreten für die Unterdrückten dieser Welt, ihr politisches Engagement. Es ist diese radikale Ehrlichkeit, die Bossong kennzeichnet. Während die meisten von uns sich während ihres Studiums hemmungslos in den Orkus hinwegfeierten, folgte Bossong während ihrer Semester der Literaturwissenschaft, Komparatistik, Kulturwissenschaft und Philosophie der Spur der totalen Antithese: Im Mittelpunkt ihrer Abschlussarbeit stellte sie sich der Inszenierung des Bösen im Werk des Filmregisseurs David Lynch. Bossong liebt das Abgründige – im Hier und Jetzt und dahinter. Dem einen, der offene Ohren und Augen für beide Seiten hat, ist sie eine literarische Wegweiserin in wahre Sehnsuchtsorte, das Land von Milch und Honig. Dem Verschlossenen ein harter Krieger mit einem scharfen Schwert: „So schrecklich“. Mysterium tremendum et fascinans. Auch wenn sie das so nicht ausdrücken würde. Sondern eben die Leerstelle für sich sprechen lässt.

Das klingt groß. Zu groß für eine so sphärische Person. Doch wer Bossong lesen will, muss mehrfach lesen. Die Gedichte. Die Essays und Reportagen. Die Romane. Denn Bossong tanzt nicht nur genretechnisch gekonnt auf vielen Hochzeiten. Sie ist auch thematisch eine exzellente Kennerin der Themen, die sie bearbeitet: von der politischen Philosophie des Antonio Gramsci (36.9 Grad, 2015) über Generationenaufträge im Handelsbürgertum (Gesellschaft mit beschränkter Haftung, 2012), käufliche Liebe (Rotlicht, 2017) bis hin zur gut gemeinten Befriedungspolitik einer in der UN verfassten Weltgesellschaft (Schutzzone, 2019). Ihre höchst politische Botschaft: Schaut hin. Schaut euch selbst an. Übernehmt Verantwortung. Und, verdammt nochmal, lasst Gerechtigkeit walten. Zwischen den Geschlechtern. Den Generationen. Den Völkern und Kulturen. Und vergesst bitte ganz schnell eure eigene Selbstgerechtigkeit. Sie wird irgendwann die anderen ums Leben und euch um den Schlaf bringen.

Nora Bossong ist angekommen im intellektuellen Zentrum der Republik. Ihr Wort hat Gewicht. Und das auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Aber nur die Wenigsten von uns sind bereit, mit ihr zusammen über den gesetzten Punkt zu gehen und sich dem Unausgesprochenen in seiner ganzen unappetitlichen Widersprüchlichkeit zu stellen. Und die entdeckt Bossong nicht nur im Metaphysischen, sondern vor allem auch in den zentralen Lebenslügen nahezu aller gesellschaftlichen Milieus und vor allem westlicher Kulturen: Menschenrechte als Verhandlungsmasse bei wirtschaftlichen Interessen, der Rückzug linker Geschlechtsgenossinnen in den finanziell abgesicherten Hafen traditioneller Paar-Rollenmuster, Gretas altkluge Klimageschwister mit iPhone-Vertrag und Papas elektrischem Luxus-SUV. Wer jetzt ihre Schriften als moralinsaure Kost auf die persönliche Verächterliste setzt, sollte sich im Sommer eine Auszeit von den eigenen Stereotypen gönnen und zu ihrem gerade erschienenen politischen Essayband Auch morgen greifen. 15 Gedankenausflüge in Welten über moralische Dilemmata: Zwischen den Generationen, Göttern und Menschen und kolonialen Großmannsträumen. Bossong geht es nicht um das Bloßstellen. Sondern um das Freilegen von Verwundungen. Für Luft, Liebe und Heilung. Denn neben Gerechtigkeit ist Verletzlichkeit ihr zweites großes Thema: Leben als Mensch und nicht als Roboter. Mit allen Facetten. Um Entwicklung möglich zu machen und Schönheit zuzulassen. Natürlich gehören da auch die Zweifel dazu: Ist das, was ich tue, richtig und angebracht? Ist es zielführend, der eigenen Stimme zu folgen, oder verliere ich mich, den Propheten einer toxischen Positivität folgend, dabei im selbstverliebten Wahn um die Realisation eigener Selbstverwirklichungsprojekte, die niemand anderem sonst zugute kommt? Und warum sollten die anderen um mich herum das tolerieren, gutheißen und sogar noch unterstützen? Und wem oder was sollte ich folgen, wenn nicht mir selbst?

Das sind große Fragen. Aber es sind notwendige in Zeiten, in denen Vertreterinnen und Vertreter ihrer eigenen Generation „Sorglos“ Führungspositionen übernehmen und Grundlagen legen wollen für ein natürlich neues, besseres Morgen. Mit neuen Ideen, divers gerecht und klimaneutral.

Wir alle ahnen: Das wird herausfordernd. Manche Ideen werden scheitern. Manche werden Früchte tragen. Glaubt man Bossong, ist die Zeit des Abwartens und Fahrens auf Sicht jedoch vorbei. Europa drohe Idee zu bleiben, China habe das Spielfeld für das 21. Jahrhundert strategisch besetzt. Das Ende der Bequemlichkeit sei gekommen. Schon wieder ein Bossongscher Abgrund mit endgültigem Punkt? Während Wissenschaftler und IT-Techniker vor allem auf die Wirkkraft digitaler und künstlicher Intelligenz setzen, glaubt Bossong ganz im christlichen Sinne an eine Renaissance des Menschen.  Vor einigen Wochen hat sie sich öffentlich dazu bekannt, allen Vorwürfen zum Trotz Mitglied der katholischen Kirche zu bleiben und sich durch ihre Wahl in das Zentralkomite der Katholiken in das Gesamtsystem einbringen zu wollen – mit Anregungen, wie es immer so schön heißt, und auch mit Kritik. Gerade die Missbrauchsthematik sei ein bestimmender Diskurstopos zwischen ihr und ihrem Vater in den Wochen vor seinem Tod gewesen. Ein Thema, das im wahrsten Sinne des Wortes berührt. Nichts für zarte Seelen. Doch Gott sei größer als die Fehlerhaftigkeit des irdischen Systems, der Glaube an seine Liebe und Größe vermittelt Halt, Wärme und Hoffnung und befreit von einem rein vernunftgetriebenen Menschenbild, in dessen Mittelpunkt ein hoffnungslos überforderter Mensch hocke und doch eigentlich nur angesichts seiner eigenen Endlichkeit und einer wartenden Unendlichkeit auf Erlösung warte: Von der Begrenztheit seiner eigenen Gedanken, Taten und seines Herzens.

Bereits in ihrem Roman Schutzzone zeichnete die Autorin die Grenzen und Fehler einer wertebasierten Organisation wie der UN nach. Wenn ideelle Grundwerte auf Realpolitik treffen mit echten Menschen, wird nur selten das Mögliche in seiner ganzen Potenzialität ausgeschöpft. Aber – und das ist ihre eigentliche Botschaft: Kein Grund, es nicht immer wieder und jeden Tag aufs Neue zu versuchen. Wenn es die UN nicht gäbe: Man müsste sie erfinden. Und gäbe es Gott nicht und seine Kirche: Lasst sie uns aufbauen.

Unser gefühlt tägliches Scheitern beinhaltet ein tägliches Verwirklichen von Möglichem. Jede Generation hat ihre Zeit und ihre Möglichkeiten. Und sie wird scheiternd gewinnen.

Das ist wunderschön. Und gerecht.

Nora Bossong ist eine von ihnen.  //

Nora Bossong
Auch morgen.
Politische Texte.
Edition Suhrkamp.
2021, 15,99 Euro