Es gilt nur das
gesprochene Wort.

von

Was ist aus dem Schweigen geworden?

3/2021

Meister Goethe würde sich wundern: über unseren Gipfeln ist nicht Ruh’, über unseren Gipfeln ist so viel Unruh’ wie nie. Wir ruhen nicht, wir schweigen nicht, wir warten nicht! Wir plappern und palavern, wir diskutieren und disputieren, wir schwadronieren und schwätzen. Wachsende Unruhe und steter Mitteilungsdrang suchen sich ihre Wortkanäle. Sie produzieren Worthülsen, Wortungetüme, Wortfetzen: Worte, immer nur Worte. 

Was nur ist aus dem Schweigen geworden? Was aus der Kunst, sich (rhetorisch) zu bescheiden und den Goethe’schen Moment für Ruh’ gekonnt zu platzieren? Wer schweigt noch, wenn er nichts weiß? Wer schweigt noch, wenn er wenig weiß? Und – die Königsdisziplin – wer schweigt, wenn er etwas wirklich besser weiß? Warum wollen wir uns aus der Masse der Plapperer und Schwätzer nicht herausheben? Warum wollen wir über alles und jedes unsere Worte streuen? Geht es wirklich nur darum, gehört zu werden, weil alle anderen auch gehört werden wollen und sich deswegen zu allem äußern? Definieren wir unseren Rang, unsere Stellung und Geltungssucht durch nicht endenden Schwall an Worten? Ist das Schweigen aus der Mode, weil es dem anschwellenden Bocksgesang der Worthülsen nicht mehr gewachsen ist? 

Nein, es nicht nur die unerträglich andauernde Pandemie, die das Gefühl erzeugt, wir würden immer geschwätziger. Corona hat Worte bloß kanalisiert und kaserniert. Das Virus hat die allgemeine Redseligkeit nur auf heimische Wohninseln verbannt, es hat sie nicht bezwungen. Da sei das Digitale davor. Das unbedachte Wort hat Fluchtkanäle gesucht, hat das Netz besetzt, die digitalen Konferenzen gestürmt, die Social Medias bis über den Rand des Erträglichen gebläht. 

Alles redet, alles wird zerredet. Allenthalben eine nahezu pandemische Mund-Diarrhoe, inflationäre „Rede-Schauen“ (vulgo Talk-Shows) mit übersichtlichem Erkenntnisgewinn, unnötige und ungebetene Kommentare zu Petitessen, die nach allen Regeln der (Wort)Kunst zu inhaltsleeren Monstren aufgeblasen werden. „Schweigen ist Zustimmung“ heißt die Zauberformel der „Exkulpation“, mit der die Rechtswissenschaft die Schuldbefreiung einer Person bezeichnet. Aber das Rechtswesen weiß auch: Schweigen ist kein „Ja“ oder „Nein“, weder Zustimmung noch Ablehnung zu einem Rechtsgeschäft. Es ist grundsätzlich keine Willenserklärung.

Kann Schweigen also nicht auch ein bewusster Akt der Bescheidung, des Respekts, der Befriedung und des Ausgleichs sein? Vielleicht gar der Erkenntnis, nicht zu allem und jedem etwas sagen zu müssen oder zu haben? Sollten wir das Schweigen nicht besser wieder als eine Kultur der Souveränität begreifen und dadurch dem mit Absicht und Hintersinn gesprochenem Wort seine dringliche Renaissance verschaffen? 

Die katholische Kirche ist aus Tradition mit Schweigen gut vertraut. Vielleicht hilft es ihr und uns, sich wieder dieser Überlieferung zu erinnern. „Ich will schweigen und meinen Mund nicht auftun; du wirst’s wohlmachen“ (Psalm 39:9). Schweigen ist nicht Zustimmung, Schweigen ist Gottvertrauen!  //