Ver-zichten Sie auf Nichts

Fastenzeit in der „Zeitenwende“

von

1/2023

„Zeitenwende“ ist das Wort des Jahres 2022. Wie gut, dass wir schon ein Jahr weiter sind, oder? War ja jetzt irgendwie mühsam, dass mit der Wende und dann auch gleich noch von ganzen Zeiten. Ein Anschlag auf unsere Gewohnheiten, auf unsere liebgewonnene Kultur des Gleichen (ach ja: die Floskel des Jahres 2022 ist übrigens „Freiheit“). Eine Zumutung für eine Gesellschaft, deren Wohlstandsgewöhnung und damit verbundener Gleichmut auf staunenswertem Niveau seit 40 Jahren zu einem sorgsam gepflegten Kult des Nebensächlichen geführt hat. Mit nichts beschäftigen wir uns lieber als mit „Nichts“!

Gewendete Zeiten? Krieg vor der Haustür, der bis dahin sich verlässlich auf anderen, weit entfernten Kontinenten abspielte; Verlust von Freiheit in Europa, Ströme von Vertriebenen aus dem gleichen Kulturkreis; eine wackere Energiekrise, mit düsteren Andeutungen von „black outs“ und dramatischen Aufrufen zu Strom- und Gasverzicht; Diskussionen über Waffen und Munition, über den Sinn von Friedensverhandlungen mit einem, der keinen Frieden will, weil Unfrieden sein vermeintlicher Exportschlager ist. Der gemeine Soziologe würde jetzt sorgenzerfurcht fragen: was hat das alles mit Ihnen gemacht? Nichts, müssten wir sagen, nichts, wir beschäftigen uns mehr denn je lieber mit „Nichts.“

Gewendete Zeiten? Welche Zeiten haben sich denn gewendet? Welchen Verzicht haben wir denn geübt? Den auf Nebensächlichkeiten jedenfalls nicht. Nein, nein, das „Nichts“ steht mehr denn je im Mittelpunkt, als wollten wir der Wirklichkeit da „draußen“ durch eine Flucht in noch mehr Petitessen „drinnen“ entgehen. Das Triviale als kollektive Therapie gegen das Reale! Das Irrelevante als Fetisch gegen das Relevante! 

Verzicht ist nun in den 40 Tagen der Fastenzeit wieder in aller Munde. Und schon feiert die Belanglosigkeit fröhliche Urständ! Natürlich immer im glitzernden Gewand des Bedeutungsschwangeren. Wortgewaltige Ratgeber vermitteln bedeutende Vorschläge: „Die zwölf kreativsten Fasten-Ideen. Womit Du(!) jetzt Nerven, Geldbeutel und die Umwelt schonst“. Nerven, Geld, Umwelt: die Primär-Vokabeln unserer nicht gewendeten Zeiten. Nicht Krieg, Unfreiheit, Flucht, nein, Nerven, Geld, Umwelt. Und wer nun ein Feuerwerk an „kreativen Ideen“ erwartet, erntet Immerwiederkehrendes, Oftgehörtes, Zu Todegeschriebenes. „Medienfreie Fastenzeit, Smartphone-Fastenplan, Wasser-Fasten, To-Go-Verpackungsfasten, Klimafasten, Konsumfasten“. Ein Kursbuch des Banalen, ein Hochamt des Trivialen, ein Fluchtplan aus der Realität, eine Gebrauchsanweisung für die Beschäftigung mit dem „Nichts“!

Der Theologe Ulrich Lüke bezeichnet die Fastenzeit in seinem Buch „Einladung ins Christentum“ als „eine Art Trainingslager der Menschlichkeit“. Dazu gehören für ihn drei Trainingseinheiten: Authentizität (sei du selbst, denn so sieht dich Gott), Solidarität (spare Zeit, Geld und Zuwendung und investiere sie für andere) sowie Spiritualität (finde Trost, Ermutigung und Hoffnung bei Gott und definiere dein Ziel neu). 

Gehen wir in dieser Fastenzeit 2023 ins Trainingslager der Menschlichkeit, arbeiten wir zur Abwechslung an den Geräten des wirklich Wichtigen und üben wir die realen Primärvokabeln Glaube, Hoffnung, Liebe! Bauen wir Muskeln auf in der wahren Solidarität und beschäftigen uns mehr mit anderen als mit uns selbst! Trainieren wir unsere Ausdauer in echter Spiritualität und besinnen uns auf unseren christlichen Auftrag!

Leiten wir die Zeitenwende ein und verzichten wir auf „Nichts“! Es ist höchste (Fasten)Zeit!   //