von Sven Schlebes
Bei uns kamen mit den ersten Sonnenstrahlen die Abrissbagger. Die illegal gebaute Autowerkstatt neben unserem Edel-Gründerzeitaltbau in Berlin-Wilmersdorf muss endlich auf Anweisung des Ordnungsamtes plattgemacht werden. Katasteramtsdrohnen sei Dank. Endlich Ordnung. Platz für neue Investoren aus Fernost. Das Wummern des mit Pressluft betriebenen Stahlnagels geht ins Mark. Mit Macht. Unser Blut bringt es leider nicht in Wallung. Das von meiner Frau und mir. Zugegeben: Wir sind eh in der sogenannten „Rushhour des Lebens“. Sandwich-40er, Kinder, Doppelverdiener, Großstadt. Mit dem Gutmenschen-Anspruch, es besser zu machen als unsere Elterngeneration: Näher und dichter und verständnisvoller. Mehr Zeit. Das Versprechen des Moral-Kapitalismus: Immer besser als die Alten. Aktuell hängen wir dazu in der Pandemieschleuse. Unser Leben gleicht einem Raumschiff im Weltall. Draußen Dunkel. Drinnen eng. Leider sind wir im Hyperraumflug zu früh aufgewacht. Organisation, qualifizierte Kinderunterstützung bei der altersgerechten Weiterentwicklung. Geld beschaffen. Zweisamkeit: Fehlanzeige. Alltagshingabe.
In meinem Lieblingspodcast über moderne Sexualität wird die Autorin J. Allen nicht müde zu betonen: „How you do Sex is how you do life. / Die Art, wie du Sexualität lebst, gleicht der Art, wie du dein Leben lebst.“ Oh mein Gott, denke ich dann immer. Eine Bank-rotterklärung. Nochmal Druck. Die Lebensrückschauer unter Ihnen werden schmunzeln: „Ihr werdet auch älter. Willkommen im Funktionszeitalter.“ Sex als Matratzensport. Wenn er denn überhaupt stattfindet. Forschungen zeigen: Je mehr Digitalisierung, um so weniger körperliche Sinnlichkeit. Heißt für mich: Als digitaler Transformationsbegleiter bin ich quasi der Totengräber echter Sexualität. In Ländern wie Japan hat angeblich fast die Hälfte der Menschen unter 40 Jahren keinen Sex. Sie scheinen zufrieden damit zu sein. Sexuelle Erfahrung wird dort vor allem von jungen Frauen über Toy boys eingekauft. Männer spielen lieber: An sich selbst, am Smartphone und der Hardwarespielekonsole. In Afrika soll es Gerüchten nach immer noch Gemeinschaften geben, bei denen Samen-Outcome-orientierter Sex als Grundlage für gesunde Föten angesehen werden. Echte Nachtarbeit im Dienste des Lebens.
Hingabe hört sich anders an. Verspricht anderes: Loslassen. Mitgerissen-werden. Verschmelzen. Das ultimative Gefühl. Aber große Worte haben es schwer in einer Zeit, in der alle auf Sicht fahren, agil auf Unwägbarkeiten reagieren und das Leben abverwalten. Hingabe: semantisch-konzeptioneller Beton. Wie die geflieste Bodenplatte unseres Nachbarhauses liegt sie auf dem Erdreich und markiert versiegeltes Gebiet.
Angeblich soll Hingabe der Schlüssel zum echten Leben sein, zur wahren Spiritualität. Zur tiefen Liebe. Der Hinduismus nennt es Bhakti, der Islam trägt die Gotteshingabe in seiner Wortbedeutung, das Judentum kennt das Prinzip der Kawwana als Hingabe und Verschmelzung im Gebet mit Gott. Aber auch unsere Kirche verweist auf den Devotio-Gedanken. Eigentlich bezogen auf Gott. Leider zu oft übertragen auf das Machtsystem Kirche schlechthin. Und damit untragbar für eine moderne Auffassung von Leben.
Das passive Element im Hingabe-Gedanken, dieses „grundlose Ergriffen-Werden“, das „Mitgenommen-Werden“ und „Aufgehen-in-und-an“, hat sie zu einer weiblichen Kernkompetenz degenerieren lassen. Mit Erfüllungsversprechen und -Anforderung zugleich. Frausein heisst hingabefähig sein und damit liebesfähig. Emotional und körperlich. Die Engelhure mit Lust an der Unterwerfung. Ein alter Topos. Ein ewiger Streit. Hingabe spielt nicht nur mit der Verzückung, sondern trägt im Gepäck auch das Asymmetrische, Gedanken von Selbstaufgabe, vielleicht sogar Opferung. Totaler Ergebenheit. Ausgeliefert sein. Dem eigenen Lust-Dämon. Der Macht der Biologie, dem Körper. Ein Fest für den presslufthämmernden Mann.
Die Erfahrung der letzten Jahre zeigt: Mit der zunehmenden Selbständigkeit und dem Selbstbewusstsein der Frauen ändert sich auch das Liebesleben. Sie wissen schon: How you do your life … Zudem gibt es heutzutage fast keine Tabubereiche mehr, über die wir nicht auf allen Kanälen in allen medialen Formen reden. Sexualität als Dauerthema, Pornos und Paarungs-Apps als moderne Selbstverständlichkeit.
Freiheit ist eingezogen in der Neukonstruktion von Geschlechteridentitäten, Paarbeziehungen, sexueller Aktivität. Und das ist auch gut so – um mit einem Berliner Bürgermeister zu sprechen.
Letzte Woche im Park: eine junge Frau schwärmt ihrer Freundin beim gemeinsamen Spaziergang laut und ungehemmt von den Fähigkeiten ihres Freundes vor: besser gesagt von den Fähigkeiten seines besten Stücks. Es war gar nicht der sogenannte „Frame“ (der öffentliche Park), der mich irritierte oder die Selbstverständlichkeit. Das Gespräch ging weiter, ich überholte aus Höflichkeit und verlor mich in der akustischen Stille. Der harte Kerl als Orgasmusgarantie. Klar, welche Frau will es nicht? Endlich stehen auch die Frauen zu ihrer Zielfixierung. The winner takes it all. Das Gespräch verriet vor allem eines: Kontrollsucht. Angst vor Verletzlichkeit. Vor Lächerlichkeit. Weil Sex nüchtern betrachtet lächerlich ist, lächerlich macht. Banales Fleischklatschen. Und daher verzotet werden muss. „Da“, mögen Sie denken: „Jetzt redet er wieder, der Mann.“ Lassen Sie mich ausreden. Ich ahne, warum wir stehen, wo wir stehen. Warum wir „sexeln“, wie wir „leben“: Der stetige Kampf um Anerkennung. Die Selbstbestimmung. Dazu die Organisationsverantwortung für sich selbst, vielleicht andere in der Familie. Ein neues gleichberechtigtes Wir braucht erst mal den Abriss des alten Dominanz-Wirs. Und diskursiv verseuchte Gefühlsdiskurse wie die um „Hingabe“ müssen enden, wo sie hingehören. Pressluftgehämmert auf dem Sondermüll.
Hingabe als soziale Lustbeziehungserwartungshaltung ist genauso toxisch und schal wie die mittlerweile als Standard erwartete „Committment“-Hingabe-Haltung von uns Menschen im arbeitenden Kontext: Alles zu emotional aufgeladen, um maximal effizient zu sein, um uns maximal zu spüren. Die ganz große Show. Streichen wir das Glamour-Theater um die Hingabe und mit ihr die Erwartungshaltung. Denn genau das verhindert sie. Zulassen ist das Geheimnis – Superschwierig. Ergebnisoffen!
Als die Schulen wieder öffneten, lagen meine Frau und ich dann doch mal wieder im Bett. Wir sahen die vergangenen Tage in den Fältchen unserer Gesichter. Ruhe. Wir schlossen die Augen und zogen die Bettdecke über uns. Ich atmete tief ein. Ich war Zuhause. Meine Frau war eingeschlafen. Innerhalb von Sekunden.
Ich atmete tief aus. Meine innere Ronja Räubertochter stieß ihren Frühlingsschrei aus. Mit dem Kopf auf Waldmoos schlief auch ich ein. Würzig-frisch. Der Einzige, der hämmerte, war der Abrissnagel aus Stahl. Ich atmete Morgentau, echte Hingabe eben. //