Suche nach einer Gegenwelt

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Autorin, Aristokratin, Katholikin, Kommunistin: Der „Genossin Gräfin“ Hermynia Zur Mühlen wollte die Schriftstellerin Felicitas Hoppe einen Abend bei der lit.Cologne widmen. Die fiel Corona zum Opfer, stattdessen sprach Hoppe mit Brigitte Schmitz-Kunkel am Telefon über die Ausnahmeerscheinung, deren Werk seit kurzem in einer vierbändigen Ausgabe vorliegt.

3/2020

Ein Essay von Ihnen leitet die Werkausgabe von Hermynia Zur Mühlen ein. Wie haben Sie diese fast vergessene Autorin entdeckt?

Ich hatte ehrlich gesagt noch nie von Hermynia Zur Mühlen gehört! Nachdem mich der Herausgeber, Ulrich Weinzierl, um diesen Essay gebeten hat, habe ich angefangen, mich mit ihrem abenteuerlichen Leben  zu befassen und war direkt fasziniert. Dann bin ich in dieses widersprüchliche, vielgestaltige Werk eingestiegen. Hermynia war ja eine Vielschreiberin.

Außer proletarischen Märchen, mit denen Hermynia Zur Mühlen ein eigenes Genre begründet hat, schrieb sie unter anderem auch Romane, Krimis, Erzählungen, Artikel und ihre Memoiren. Was mögen Sie besonders?

Mein unangefochtenes Lieblingsbuch ist ihre Autobiografie „Ende und Anfang“ von 1929, meiner Auffassung nach ihr bestes Werk. 

Warum?

Weil sie hier ganz bei sich ist. Sie erzählt ihr Leben, sie ist witzig, ironisch, leichtfüßig. Sie ist eine unglaublich scharfe Beobachterin, sie kann unglaublich gut Menschen beschreiben, auch karikieren. Ihre Autobiografie ist ihr unideologischstes Werk. Da unterwirft sie sich nicht ganz so sehr ihrer eigenen Botschaft. 

Der ironische Blick richtet sich hier auch auf ihre Herkunft, den Adel.

Das kann man heute kaum noch nachvollziehen: Was es damals bedeutet hat, sich aus diesen aristokratischen Zusammenhängen zu befreien. Sie ist diesen Weg gegangen und hat dafür einen hohen Preis gezahlt. Sie hat ja nach der Scheidung von ihrem ersten Mann fast ihr ganzes Leben in prekären Verhältnissen gelebt. Sie musste schreiben, um Geld zu verdienen.

Hat das ihren Blick für soziale Ungerechtigkeit geschärft? 

Sie hat sich getraut, die Dekadenz der Adelsklasse genau anzugucken. Ihr Sozialismus ist zunächst eine Rebellion gegen die eigene Familie. Man darf nicht vergessen, wie privilegiert sie aufgewachsen ist, hochgebildet, viel gereist; umso erstaunlicher, dass sie es geschafft hat, sich aus dieser Welt konsequent zu entfernen. Aber natürlich war sie ästhetisch geprägt und hat knallhart versucht, sich das abzugewöhnen.

Wie findet sich das in ihren Büchen wieder?

Sie sucht nach einer Gegenwelt. Es gibt erstens die Aristokratie. Dann das Bürgertum, das sie verachtet. Das ideologische und idealisierte Gegenbild zur Aristokratie wird dann der Kommunismus. Diese Dreiteilung zieht sich schwarzweiß durch alle ihre Bücher. Die Armen sind die Guten, die Aristokraten oft die Bekehrten. 

Die politischen Märchen wirken in ihrem Traum von einer besseren Welt ziemlich naiv.

Die Naivität kommt daher, dass ihr Wille zur Weltverbesserung einfach so groß war, dass sie idealtypische Modelle schafft. Das ist in den Grimmschen Märchen auch so, aber da gibt es nie auch nur den Anschein einer Revolution! 

Speiste sich ihr moralischer Anspruch auch daraus, dass sie katholisch war? 

Absolut. Wir haben hier eine katholische kommunistische Gräfin. Die meisten Menschen verstehen überhaupt nicht, wie Katholizismus und Kommunismus zusammengehen – ich finde das direkt zwingend! Der Wunsch, die Welt zu verbessern und ein Ideal anzustreben, ist eigentlich etwas Religiöses. Beides, Katholizismus und Kommunismus, bietet außerdem auch ein weltumspannendes Erlösungsprogramm für alle. Sie war eine glühende Anhängerin der russischen Revolution, ist dann aber später aus der Partei ausgetreten und hat sich auf das katholische Weltbild mit kommunistischem Anstrich zurückgezogen. 

Fasziniert Sie das am meisten an ihr? 

Das finde ich das Interessanteste. Sie hat auch nicht vor dem Gattungsbegriff der Legende gescheut.  „Die Heiligen Drei Könige“, meine Lieblingserzählung, zeigt, wie durchtränkt sie ist von der ganzen Motivgeschichte des Katholizismus. Aber man muss vorsichtig sein, solche Personen werden ja auch stilisiert. Ein zeitgenössischer Kollege von ihr schrieb, sie sitze an der Schreibmaschine, Tag und Nacht, „mit dem Gesicht, das Jesus gehabt hätte, wäre er eine Frau gewesen“. 

Zur Mühlen legte einen „furchtlosen“ Stil- und Genremix vor, wie Sie sagen. Wie ist das für Sie als Kollegin?

Für Hermynia war Schreiben einfach das Mittel zum Zweck, da hält man sich nicht mit ästhetischen Kinkerlitzchen auf. Das begeistert mich und schreckt mich gleichzeitig ab. Sie hat ja auch in ihren Übersetzungen von Upton Sinclair die politische Botschaft eigenmächtig nachgebessert! 

Politik in der Literatur ist wieder ein Thema. 

Ich bin da als Künstlerin ambivalent. Im Essay habe ich letztes Jahr noch geschrieben, das 21. Jahrhundert tue sich schwer mit einer wie Hermynia, das würde ich heute schon nicht mehr so sagen. Ich merke, wie der Druck wächst, sich nicht mehr nur mit künstlerischen Fragen zu beschäftigen. 

Zur Mühlens Roman „Unsere Töchter, die Nazinen“ wirkt frappierend aktuell. 

Man muss staunen, mit welcher Schärfe sie 1935 schon diese Typologie von Mitläuferinnen verfasst hat. Da kann man schon sagen, lest Hermyia!  //