von theo
Es waren zwei Ereignisse in meinen jungen Jahren: Ich las das Buch Der alte Mann und das Meer von Ernest Hemingway. „Der Mensch darf nicht aufgeben. Man kann vernichtet werden, aber man darf nicht aufgeben.“ Diese Sätze gingen mir unter die Haut. Ich bezog sie auf mich und sah die Welt neu. Damals war ich ein unglückliches Kind und litt unter der Kriegstraumatisierung meines Vaters. Ich erkannte, dass ich aktiv werden musste. So wurden diese Sätze zum Lebensmotiv: „Ich werde mich nie unterkriegen lassen“. Und dann war es die Aufnahme an die damals begehrteste Schauspielschule, das „Max Reinhardt Seminar“ in Wien. Seit meinem 14. Lebensjahr wusste ich: „Mein Platz ist auf der Bühne.“ Trotz intensivster Vorbereitung schien statistisch die Erfolgschance gering. Ich dachte an Hemingway, nie aufgeben! Von über 300 Bewerbern würden es nur elf schaffen. Ich war eine davon. Wille, Fleiß und fester Glaube an die Machbarkeit hatten zum Ziel geführt: „Ich muss da hin.“ Die Einstellung, nicht auf Bedenkenträger zu hören, konnte ich später als Coach an viele junge Menschen weitergeben.
Dr. Susanne Altweger ist Diplom-Psychologin, Schauspielerin, Autorin und Coach. Sie lebt bei Düsseldorf.
Mein Vater hielt mich für einen Sturzengel, nachdem ich als Dreijähriger aus Protest gegen ihn aus dem 2. Stock gesprungen und unbeschadet unten angekommen bin. Etwa 33 Jahre später sah es etwas anders aus. Auf dem Rückflug von Patagonien nach Amsterdam kollidierte die Maschine nach einem Zwischenstopp in Rio gleich nach dem Start mit einem Reiherschwarm. Das vollbetankte und -besetzte Flugzeug verlor vor meinen Augen seinen rechten Motor, zog eine lange Flamme hinter sich her und flog stark vibrierend in Augenhöhe mit dem Zuckerhut auf das offene Meer hinaus. Nachdem Sprit abgelassen worden war, ging es ungelenk zurück: auf einen Schaumteppich, den man in der letzten, weiten Kurve vor der gewagten Landung von weitem sehen konnte – ebenso wie die aus allen Himmelsrichtungen herbeisausenden Blaulichter. Im Flugzeug herrschte
Totenstille. Keine Ansage.
Während des halbstündigen Rückfluges hatte wohl nicht nur ich mit dem Leben abgeschlossen. Wie ein Film liefen wesentliche Erinnerungen an mir vorbei. Warum gerade ich? Die DC 10 rutschte krachend und schürfend auf dem Bauch über die Piste hinaus. Nichts wie raus. Explosionsgefahr.
Der Kapitän war als erster draußen! Gerade dem nahen Tode entronnen, hatten manche Passagiere Angst, aus fünf Metern Höhe notzurutschen. Jene, die unverletzt geblieben waren, trafen sich in der Flughafenkapelle, angeführt von Kardinal Arns aus Sao Paolo, der sein Schicksal erstklassig erlebte, ich hingegen in der Holzklasse.
Das war eine fundamentale Grenzerfahrung und veränderte die Sichtweise. Kaum notdürftig in Spitälern und Hotels untergekommen, ging der nervenzermürbende Wettkampf mit seinem Nächsten gleich wieder los. Das habe ich, versunken in einen Sessel im Hotelfoyer, lange verwundert beobachten können. Unglaublich! So wird es wohl nach Corona auch sein.
Prof. Henrik R. Hanstein, ist Komplementär der Auktionshäuser Kunsthaus Lempertz u. Venator&Hanstein in Köln- Berlin und Präsident des europäischen Versteigererverbandes EFA. Er lebt bei Köln.
Ich dachte in dem Moment, dass meine Welt untergeht. Das tat sie auch, und gleichzeitig ging eine andere auf. Vor drei Jahren hielt ich den Kopf meines Geliebten in den Händen, als er starb. Vorher dachte ich immer, dass nach dem Tod alles vorbei ist. Das große Nichts. Keine schlimme Vorstellung für mich, einfach eine Tatsache. Und dann, als er mich ansah und zum letzten Mal ausatmete, wusste ich schlagartig, dass das nicht stimmt. Es war nicht einmal so, dass ich es gehofft hätte oder mich damit trösten wollte – ich war von der Wucht der Erkenntnis selbst überrascht.
Danach setzte natürlich die Trauer ein, Verzweiflung und Sehnsucht, doch immerhin hatte ich die Gewissheit, dass ich ihn niemals ganz verlieren würde. Sobald ich wieder einigermaßen klar denken konnte, wollte ich (noch) mehr Sinnvolles tun. Inzwischen bin ich fast fertig mit meiner zweijährigen Ausbildung zur Trauerbegleiterin. Seit ich einen viel weiteren Blick auf das Leben und den Tod habe, fühle ich mich tiefer und fester verwurzelt im Universum – und ich hoffe, mit dieser Sicherheit auch anderen Menschen helfen zu können, die Zuversicht wiederzufinden.
Birgit Fuß lebt nach London, Hamburg und München seit 2010 in Berlin und ist Redakteurin bei der Musikzeitschrift ROLLING STONE. Ab 2021 wird sie auch als Trauerbegleiterin arbeiten und ein Buch veröfffentlichen.
Ich war 19 und ziemlich allein. Nach dem Abitur in einer anderen Stadt war ich gerade zurück nach Köln gezogen. Hier lebte die Verwandtschaft, doch noch hatte mein erstes Semester nicht begonnen, alles hing in der Luft. Ich ging ständig ins Kino, auch an einem besonders schlechten Tag. Eine Schachtel mit Nostalgie-Lämpchen; ein Film, der zu dem Ambiente denkbar wenig passte. Wohl aber zu mir, denn von der ersten Einstellung an machte mich Woody Allens Manhattan glücklich. Die Skyline von New York in schmelzendem Schwarzweiß, dazu Gershwins schwelgerische „Rhapsody in Blue“. Erwachsene Menschen, die machten, was sie wollten. Die schreiben, durch Museen streifen, Jazz hören, in kleinen Wohnungen voller Bücherregale leben. Passionierte Großstädter, die bei Bloomingdale’s ein Rendezvous haben, am Wochenende aufs Land fahren und lebensfroh ihre Freunde in Restaurants mit karierten Tischdecken treffen. Die lieben, sich verlieben und trennen, die Fehler machen und es wieder versuchen. Das alles wollte ich, vor allem wollte ich Großstadt, einmal nach New York und Freunde mit der umwerfenden Selbstironie Woody Allens, der hier Isaac Singer heißt. „Du musst ein bisschen Vertrauen in die Menschen haben“, lehrt ihn am Ende seine junge Freundin. Genauso ging’s dann auch.
Brigitte Schmitz-Kunkel ist Kulturjournalistin. Sie lebt in Köln.
Eigentlich nur für den Fall, dass sich mal keine Unterkunft finden sollte, hatte ich bei einer Radtour durch die Eifel und den Hunsrück ganz alleine einen kleinen Schlafsack und ein Einmann-Zelt auf dem Gepäckträger. Der Fall trat gleich am ersten Abend ein. Also suchte ich eine Stelle im Wald, möglichst weit von der Zivilisation entfernt, denn wild Zelten ist verboten in Deutschland. In der Satteltasche lag ein Stück Brot, eine Tomate, ein Stück Käse und eine Flasche Wasser. Auch wenn man sich bewegt hat, braucht man abends keine Mahlzeit von der Größe einer Haxe und der Magen knurrt seltsamerweise trotzdem erst morgens. Dann kam die Dämmerung: Ruhe unter den Bäumen, nur das Rascheln kleiner Tiere im Laub. Die nahmen von mir, dem bescheidenen Zelt und dem Rad seltsamerweise keine Notiz. Der Wald – auch wenn’s in Wahrheit ein Forst war – lag einfach da und es war, als meditierte er. Die Ruhe übertrug sich auf mich, und das Gefühl, dort gar nicht zu stören und von der Natur selbstverständlich aufgenommen zu werden, habe ich nie vergessen. Gut: es kam auch kein Gewitter, kein Jäger und mit Wölfen musste ich zu der Zeit noch nicht rechnen. Morgens um fünf, sechs Uhr ist die Nacht spätestens vorbei. Zwei, drei Nächte verbrachte ich so. Erst lange danach merkte ich, dass mich die Eifel-Tour verändert hatte. Beim Corona-bedingten Klopapier- und Nudelnhamstern neulich etwa musste ich nicht mitmachen.
Ralf Krieger ist gelernter Fotograf, heute Tageszeitungsredakteur. Er lebt in Köln. Zwischendurch ausgewandert.
Klar, Indien ist das Land der Erleuchtungserlebnisse. Aber deshalb war ich nicht hingereist. Ich wollte ein Semester im Ausland studieren, wie das so üblich ist im Philosophie- und Theologiestudium. Doch es war kein Hörsaal, in dem ich am meisten über Gott und die Welt lernte. Sondern ein klappriger, verbeulter Bus. Vergitterte Fenster, überall geflickte Bleche. Ich saß hinten. Die einzige Tür des überfüllten Gefährts war vorne. Bei einem Stopp signalisierten die Menschen um mich herum, ich müsse aufstehen. Durch ein Fenster wurde ein langer Tankschlauch gefädelt, unter meinem Sitz kam ein Tankdeckel zum Vorschein. Mitten im Bus, verrückt. Während der Diesel fauchend durch den Schlauch lief, dachte ich: Wenn jetzt der Bus Feuer fängt, schafft es hier keiner so leicht raus. Und dann? Wer kommt in den Himmel? Viele Religionen hätten darauf eine klare Antwort: Naja, halt nur wir; die anderen bleiben draußen. Ich war der einzige Christ im Bus. Der Himmel wäre dann also eine ziemlich exklusive Veranstaltung. Wie kleinlich ist doch vieles, was wir über Gott und die Menschen zu wissen meinen. Wenn wir schon versuchen, über das Leben hier und das Jenseits nachzudenken, sollten wir es uns immer größer vorstellen, als wir können. Wenn ich heute Zweifel habe an dem, was ich tue oder wie ich mich verhalte, denke ich oft an die Minuten neben dem gurgelnden Tankschlauch im Bus. Das gibt mir den Ruck: Denk groß über Gott und die Menschen. Ansonsten kannst du es gleich bleiben lassen.
Stefan Weigand ist studierter Theologe und Philosoph. Er führt ein Büro für Gestaltung und ist Familienvater und Autor. Er lebt in Schwäbisch Hall.
Der Tag, der alles anders gemacht hat, war unscheinbar, natürlich war er das. Eine Begegnung, ein Abendessen, ein Kuss, es fühlte sich unbedeutend und flüchtig an. Erst heute, 11 Jahre später, verstehe ich, wie die Frau, die ich liebe, mich verändert, wie sie meine vermeintlichen Gewissheiten, meine Sicht auf die Welt und die Menschen durcheinandergewirbelt hat. Ich dachte immer, ich wisse schon, was es heißt, fremd zu sein oder sagen wir: nicht privilegiert. Aber erst sie hat mir gezeigt, wie wenig Ahnung ich hatte und wie unfähig ich war, mich in andere Menschen, Schicksale, Lebenswege hineinzudenken. Lam Bao stammt aus Vietnam, ihr Vater hat als Scharfschütze im Dschungel gekämpft. Ihre Mutter war das Kind reicher Eltern, aber ihre Familie wurde nach dem Krieg enteignet, auf einmal gab es keinen Chauffeur und keine Musikstunde mehr, auf einmal musste sie zwölf Stunden am Tag Reis auf dem Markt verkaufen, heute arbeitet sie als Putzfrau, elf Euro die Stunde. Als Lam Bao nach Deutschland kam, wurde sie ausgelacht, trug Pullover von der Caritas und verstand nicht, warum sie als Einzige kein weißes Kommunionkleid tragen durfte. Anfangs dachte ich: Oje, sie muss noch viel lernen, wenn unsere Liebe halten soll. Irgendwann habe ich begriffen, dass ich vor allem von ihr lerne.
Tobias Haberl ist Redakteur beim Magazin der Süddeutschen Zeitung. Sein Buch „Die große Entzauberung“ (theo 2/2020) wurde zum Bestseller. Er lebt in München.
Für mich waren es tatsächlich drei Bücher, die jeweils den Lauf meines Lebens veränderten.
Nachdem ich mich in jungen Jahren etwa 10 Jahre intensiver buddhistischer Praxis gewidmet hatte, hat die Buchreihe Gespräche mit Gott von Neal Donald Walsh meine Sichtweise auf das Leben freier und weiter gemacht, was dazu führte, daß ich nicht mehr einem vorgegebenen Weg folgen konnte. Das zweite war Anastasia, die klingenden Zedern Russlands von Vladimir Megre, woraufhin ich für ein paar Jahre ausgewandert bin und, verzaubert von dieser neuen Energie, in einem wunderschönen Garten gelebt habe.
Das dritte Buch hat mich ein paar Jahre später, nach einigen Lebensturbulenzen aus Depression und mangelnder Lebensfreude befreit. Das Buch von Dr. Dain Heer Sei du selbst, verändere die Welt hat mich während des Lesens schon verändert, tief berührt und begeistert. Vor allem hat es mich inspiriert, viele Dinge, inklusive mich selbst und meine künstlerische Arbeit nochmal in einem anderen Licht zu sehen und ein glücklicheres Leben zu leben. Einer der wichtigsten Sätze war wohl: „Im Angesicht von Bewusstsein können Dinge wie Zerstörungen, Kriege und Schwierigkeiten, die es derzeit gibt, nicht existieren.“
Kristina Johlige Tolstoy ist Bildhauerin und die Ururenkelin des russischen Schriftstellers Leo Tolstoi. Sie lebt im Allgäu.
Überspannt! Freundlich formuliert! Ich hielt Menschen, die mit verzücktem Antlitz vom Anblick eines Kunstwerks so schwärmten, weil es ihr Leben verändert habe, für überspannt. Solche Arroganz schreit nach einem Saulus-Moment. Mein Damaskus war Jerusalem (immerhin!). Pilgerfahrt mit Behinderten, dichtgedrängtes Programm, keine Lücke, um auszubüchsen. Für langjährige Chagall-Fans wie mich gibt es dort einen besonderen „Pilgerort“: die 12 Fenster des verehrten Genies in der Synagoge des Hadassah Medical Centers. Weit weg von der Stadt, im Westen im Tal von Ein Karem. Letzte Möglichkeit, es war Freitag, Samstag ging der Flug zurück. Wat mut, dat mut: Pilgergruppe verlassen, Taxifahrer in Gestalt eines Wegelagerers anheimgefallen, heiße, kurvige Fahrt, und -: Synagoge freitags geschlossen! Nee, Freunde, das ist jetzt nicht euer Ernst? Ich will da rein, ich komm hier doch nie wieder hin. Mit „nicht-mit-mir“-Schritt Richtung Synagoge, die Tür war geschlossen, es drang aber Gesang nach draußen. Also Papp-Kippa auf, Blick gesenkt, Klinke gedrückt: eine geistliche Feier nahm gerade ihr Ende, ich drückte mich in eine Ecke, niemand nahm Notiz. Im festen Glauben, gleich barsch des Ortes verwiesen zu werden, sog ich schnell die Fenster eines nach dem anderen auf. Im Rücken schlug die Tür: plötzlich war ich allein. Allein mit der Nachmittagssonne, die das grandiose Glas des Marc Chagall in eine nie gesehene Farb-Orgie wandelte. Die 12 Söhne Israels nahmen mich in eine verzückende Haft, ich spürte so nie-Erlebtes: Glück, Schönheit, Ergriffenheit, Aufregung, Emotion und zuletzt eine wunderbare tiefe Ruhe. Seit dieser Stunde in Blau, Rot, Grün und Gelb bin auch ich überspannt.
Albrecht von Croÿ ist Mit-Herausgeber von theo.
Der Unternehmensberater für Kommunikation und Journalist lebt in Düsseldorf.
Es ist ein paar Jahrzehnte her, als die erste Heilige Kommunion mich an den Tisch des Herrn führen sollte. Während unsere Religionslehrerin, die feingliederige Frau Kumetat, Sinn und Bedeutung des „Weißen Sonntags“ heraufbeschwor, sah ich mich traumverloren in einer Mischung aus Märchenfee und Ballerina mit weißen Seidenrosen im Haar das Knie vor dem Höchsten beugen. Auf jeden Fall sollte ein Petticoat aus versteiftem Nylon dem weißen Kleid Halt und Schwung verleihen, einer, „den jetzt alle haben“.
Meine fromme Tante Anna, Directrice in einem Modehaus, machte mit Mutters Unterstützung meine Ambitionen zunichte: Die Tante würde es sein, die mir das Kleid maßschneiderte, und wenn eins nicht infrage käme, sei es ein Petticoat: Ich weinte vor Wut und Enttäuschung, fand mich abstoßend hässlich, als ich in dem selbstgenähten Schlabberkleid erstmals die Hostie empfing und in das Erschauern vor dem heiligen Augenblick mischte sich Scham, sogar vor dem Gekreuzigten.
Viele Jahre und etliche eigenwillige Mode-Statements später traf ich auf einem Konzertabend zufällig auf Frau Kumetat, die ich, seit ich aufs Gymnasium gewechselt war, nie mehr gesehen hatte. Ich stellte mich ihr in den Weg mit den Worten: Wissen Sie noch, wer ich bin? Sie lachte: „Selbstverständlich. Außerdem hattest Du damals das feinste Kommunionkleid an, das ich in all den Jahren als Lehrerin sah.“
Ich starrte sie bloß an. Zu Hause kramte ich die alten Fotos hervor und nahm das Kleid sprichwörtlich unter die Lupe: Und ich sah es mit anderen Augen, sah, dass es ein zurückhaltendes, dem Anlass angemessenes, sehr stilvolles Kleid war, an dem jedes Detail einen Sinn für Ästhetik und Qualität erkennen ließ. Halbrunde Knöpfe, die vom Kragen bis zur Taille reichten, waren mit dem weißen Organza-Stoff überzogen, aus dem das ganze Kleid geschneidert war. Das war der einzige Schmuck. Im Geiste umarmte ich Tante Anna, die längst gestorben war. Die Auseinandersetzung mit meinem Kommunionkleid hat viel in mir geweckt, vor allem wohl die Faszination für wahre Schönheit und Qualität.
Brigitte Haertel ist Autorin und Redaktionsleiterin von „theo“. Sie lebt in Düsseldorf.
Das Traumschiff habe ich als Kind geliebt. Die schönsten Strände, die schönsten Menschen, die großartigsten Uniformen. Und das tolle Kapitänsdinner zum Schluss. Sicher, es gab familiäre Konflikte. Manchmal war sogar ein Dieb dabei, Kunstfälscher. Hochstapelei. Egal. Der Teppich war rot, die Gangway steil, der Ausblick genial. Im Studium bekam ich dafür die Verachtung der Intellektuellen zu spüren, ihren Hass auf die Oberflächlichkeit, die Langeweile beim immer gleichen Plot, ihre aufklärerische Wut gegenüber sämtlichen Stereotypen dieser westlichen 80er Jahre-Welt. Anspruch hatte, was unbequem daherkam, laut war und zerstörerisch. Ein guter Mensch lebt ernst. Oder so. Und so ließ ich das Traumschiff untergehen. Jahrzehnte machte ich mir das Lied der Besserwisser zu eigen. Leidend, entsagend, aber in der Gewissheit der Richtigkeit. Jahrelang suchte ich für unsere Kinder pädagogisch besonders wertvolle Bücher aus. Natürlich handgezeichnet. Holzspielzeug mit gutem Gewissen. Alles – weil es richtig war. Spaß hat es meinen Kindern nicht gemacht. Als Corona uns zu Amazon Prime-Kunden machte, entdeckten wir den ZDF Select-Kanal. Sozusagen das Gebrauchtwarenlager des braven BRD-Spießersenders. Mit samt seinen Seriensünden: Schwarzwaldklinik. Und Traumschiff. Wir erwischten die Folge mit Sascha Hehn. Als Victor Burger beerbt er den Alten, Jacob Paulsen, und sticht in See. Vom Schulmädchenreport und Halbgott in Weiß hatten meine Kinder bis dato keine Ahnung. Australien fanden sie faszinierend, litten beim Paarstreit und freuten sich über den Reelingskuß. Spätestens beim Kapitänsdinner sprangen beide auf: Klatschmarsch. Nur kurz grummelte mein Magen. So glücklich habe ich meine Kinder schon lange nicht mehr gesehen. Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet ein intellektuelles, ökologisches und kulturelles Unding wie das Traumschiff die dunklen Wolken unserer Virusdepression durchdringt. Seitdem weiß ich, wie wichtig die richtige Verpackung von Botschaften ist, um das Menschenherz zu erreichen und zu neuen Ufern aufzubrechen. Ein Königreich für eine gute Geschichte. Und ein Leben für gute Unterhaltung. Meckie Messers Moritate kann ab sofort jemand anderes singen. Ich nehme James Last und schwitz’ unter der Käpitänsmütze.
Sven Schlebes wohnt mit seiner Familie in Berlin. Tagsüber unterstützt er Unternehmen und Organisationen bei der Entwicklung einer neuen Arbeitskultur.