von Sven Schlebes
„Das bin ich“, erklärte meine Tochter und klebte ihr selbstgemachtes Selfie ins neue Schulheft. „Jetzt. Mit 9. Das hier war ich vor drei Jahren.“ Nickend tippte sie auf ihr Einschulungsfoto. „Süß, oder? Damals habe ich noch so viel gelacht.“ Unsere Tochter hat jetzt Sachkunde in der vierten Klasse. Hauptthema: Veränderung. Vorrangig die körperliche. Präpubertäre Aufklärung im Rubikon-Zeitalter: Brüste, Penis, Blut. „Und wie hast du dich verändert? Seit deiner Einschulung?“, fragt sie mich.
Es gibt so Fragen, die sind zuviel für einen Morgen zwischen erstem Kaffee und Rasierer. Um schlagfertig zu antworten oder echten Mehrwert zu bieten. Wie hast du dich verändert? Schließlich musste ich dazu 38 Jahre emotional durchwaten und geistig verstehen. Im Mittelalter war bei vielen meiner Geschlechtsgenossen das Leben bereits zu Ende. Heute sprechen wir von Halbzeit. Häufig am Wende-, manchmal am Scheidepunkt. „Wenn du alles richtig machst, Sven, wirst du bis Mitte vierzig ackern und danach nur noch ernten“, hatte mein Vertrauensdozent an der Uni verkündet. Das Tor zum Garten Eden. Jetzt am Küchentisch muss ich über solche Weisheiten lachen. Das Leben als linearer Prozess. Immer vorwärts. Immer aufwärts. Fortschritt. Wäre schön, wenn’s so wäre. Ist es aber nicht.
Die meisten meiner Teamkollegen im aktuellen Veränderungsprojekt, neudeutsch „Digital Transformation“, können davon nicht nur ein Lied singen, sondern einen ganzen Wagnerzyklus. Inklusive Wahnsinn, jeder Menge Tote, Liebesnächte, schimmernder Schätze und verlustreicher Schlachten. Denn bei ihnen haben sich nicht nur die primären und sekundären Geschlechtsteile verändert, sondern oft auch Freundschaften, Ehen, Arbeitsplätze sowie das Große und Ganze. Als sie geboren wurden hieß Chemnitz noch Karl-Marx-Stadt. Und Ochs und Esel hielten weder den Sonnenaufgang im Osten noch den Sozialismus auf in ihrem Lauf. Bis alles anders kommen sollte. Schlag auf Schlag. Riss auf Riss. Ihr Land hat sich verändert. Ihre Gesellschaft. Ihre Kultur. Ihre Lebensweise. Ihre Biografie. Und jetzt abermals: Ihre Arbeit. Nur noch von zuhause mit Computer. Der Küchentisch als moderne Werkbank.
In Japan, erzähle ich ihnen dann, sind Teetassen erst dann besonders wertvoll, wenn deutliche Gebrauchsspuren zu sehen sind. Am besten ganze Brüche, die mit Gold wieder zusammengekittet werden. Verändert und doch dasselbe Gefäß.
„Tassen-Sven“, spötteln sie seitdem, wenn sie mich sehen. „Geh’ Tee trinken.“ Wäre ich der verrückte Hutmacher in Alices Wunderland, würde ich an dieser Stelle zur Teeparty einladen und den Nicht-Geburtstag feiern. Einfach so. Und dann zur Kernfrage kommen: „Wer bist du?“ Oder besser: „Wer, glaubst du, bist du geworden? Und warum?“
Die Persönlichkeitspsychologen glauben, dass die Vorstellung von mir selbst ein dynamisches Konstrukt ist, das sich massiv verändern kann. Ich als Dauerbaustelle. Das Gute: Niemand ist seinen Denkgewohnheiten wirklich ausgeliefert. Das Schlechte: Ich weiß nie wirklich sicher, wer ich bin. So wie ich niemals zweimal in denselben Fluß des griechischen Philosophen Heraklit treten kann, ist es mir unmöglich, zweimal denselben Sven im Spiegel zu erblicken.
Mein Körper hat sich verändert – seine Zellen und selbst die DNA mutieren jede Sekunde. Meine Gefühle verändern sich, meine Erfahrung, meine Selbstwahrnehmung. Manchmal dauert letzteres länger, manchmal ist in einer Sekunde alles anders.
So wie das Leben laut Evolutionsbiologen einem ständigen Wandel unterworfen ist im Wechselspiel von externen Einflüssen und endogenen Entwicklungen, vollziehen ganze Gesellschaften und Kulturen Veränderungen, die heute politisch korrekt „Soziale Differenzierung“ genannt werden. Während die einen wie der selbsternannte integrale Philosoph Ken Wilber an sinnvolle, aufeinander aufbauende Entwicklungsstadien glauben (Spiral Dynamics), nehmen andere Abstand von ursachenfokussierten Betrachtungen sozialer Wandelphänome. Leben verändert sich. Wie, ist beschreibbar, oft nicht vorhersehbar, manchmal erklärbar.
„Du musst halt mit der Veränderung gehen“, grinsen einem die Krisengewinnler entgegen. Denn die gibt es immer. Zu jeder Zeit. Mal stehst du oben. Mal stehst du unten. Aus Angst, bei der nächsten Veränderungswelle nicht mehr der Ehepartner oder Arbeitskollege der Wahl zu sein, bieten heute Coaches aller Couleur Veränderungsbegleitungen für jede Gelegenheit an: Der neue Körper, die neue Fähigkeit, die neue Sprache, das neue Hobby. Immer auf der Suche nach dem wahren Ich, dem tiefen Sinn, dem Platz im Großen und Ganzen.
Schnell berührt die anfängliche Neugier nach dem Neuen die tieferliegenden Schichten der Angst in uns: Was, wenn ich den Wandel diesmal nicht mehr packe? Der Körper schlapp macht? Ich es nicht mehr verstehe und einfach nur noch von gestern bin?
Als gute Kapitalisten wissen wir: das Neue von heute ist das Alte von gestern. Mal kommt das Neue durch mich zur Welt, mal durch andere. Mal bin ich das Neue. Mal das Alte. Das zu akzeptieren ist schmerzhaft. Ich bin nicht der alleinige Geliebte des vermeintlichen Glücks. Irgendwann bleibst du stehen vor deinem Spiegelbild. Vor 20 Jahren hattest du einen Laptop unter dem Arm, vor 10 Jahren vielleicht eines der ersten Smartphones am Ohr. Heute sprichst du mit deiner Uhr. Morgen vielleicht direkt mit deinem Spiegel. Und er zeigt dir alle Biodaten an. Die Kulissen, sie verändern sich. Unsere Werk- und Spielzeuge auch. Und wir Menschen ändern uns mit ihnen. Nur wesentlich langsamer.
Die Seele, so heißt es, braucht für ihre Abenteuerreise durch das Land der Wunder immer mehr Zeit. Sie geht barfuß. Auch wenn der Geist mit Lichtgeschwindigkeit reist. Sie verändert sich, indem sie berührt und berührt wird. Zufasst und loslässt.
Oft hängen wir in Erinnerungen fest, die Jahrzehnte zurückliegen. Wir sind berührt worden, haben aber nicht losgelassen. Ein Teil ist geblieben. Vielleicht ist das das Leben. In meinen beruflichen Veränderungsprojekten stelle ich jedoch für mich fest: Wer viel erlebt hat, kann selbst entscheiden, ob er zu großen Teilen in der Vergangenheit festhängt und damit im Jetzt gar nicht mehr anwesend ist und kraftlos. Oder ob das Erlebte ihm als Kraftquelle zufließt und er es seinem Umfeld als Schatz zur Verfügung stellen kann.
Die einen sind die Toten, die ihre Toten begraben. Die anderen sind die lebendigen Quellen, von denen wir trinken und die wir so dringen brauchen.
Als meine Tochter sich am besagten Sommermorgen ihre Schultasche auf die Schulter schnallt, gebe ich ihr einen Kuss auf die Stirn. „Seit meiner Einschulung habe ich mich sehr verändert. Manche würden sagen, ich sei sehr ernst geworden. Aber ich wache immer noch jeden Morgen auf und freue mich über den Zauber eines neuen Tages. Und wenn ich dich sehe, weiß ich, dass unser Leben ganz großes Theater ist. Große Magie. Und wir. Wir sind die Kaninchen.“
Da lachte sie. Und hüpfte ihrem neuen Schultag entgegen. //