von Brigitte Haertel
Es ist so bezeichnend wie traurig für das Image der katholischen Kirche, dass bei der Geschichte, die hier erzählt werden soll, ein klares Wort vorangestellt werden muss: Nein, es geht nicht um Mißbrauch! Astrid Ackermann und ihre ältere Schwester Sylvia verbrachten ihre Kindheit unter Männern im Kloster, in einer hermetischen Welt, und heute nennen sie die Jahre „die schönsten ihres Lebens“.
Der Wind bläst kalt um den Frankfurter Hauptbahnhof, es ist Anfang April, und zum Interview erscheint Astrid Ackermann mit dicker Mütze, schwerem Gepäck und auf die Minute pünktlich. Ihre blitzenden Augen sind ein Versprechen auf ein kurzweiliges Gespräch. Gerade kommt sie von der Trauerzeremonie ihrer 87-jährigen Tante, einer „grauenhaften anonymen Massenbeerdigung von 28 Urnen“.
Und schon liegt das Thema auf dem Tisch: Wie schade ist es doch, dass die schönen, kirchlichen Rituale dem Vergessen preisgegeben werden.
Mit diesen Ritualen, nein mit der ganzen katholischen von-der-Wiege-bis-zur Bahre-Performance ist Astrid Ackermann aufgewachsen und konnte sich damals gar nicht vorstellen, dass es auch etwas anderes gibt.
„Ich vermisse das Leben in der Gemeinschaft jeden Tag.“
Nun ist es ja keine Seltenheit, dass Künstler sich gesellschaftlichen Zwängen und damit der Gemeinschaft lustvoll verweigern und gleichzeitig unter dem außen-vor-sein leiden. Bei Astrid Ackermann läuft es umgekehrt.
Sie stammt aus Großheubach, einem Ort im südlichen Spessart. Als einzige Attraktion in der Gegend zieht die Wallfahrtskirche im Kloster Engelberg jedes Jahr tausende Gläubige an.
Seit 1724 werden die Fürsten von Löwenstein-Wertheim-Rosenberg hier bestattet, die Adelsfamilie ist im nahegelegenen Kleinheubach beheimatet.
Seit Generationen arbeiteten Frauen und auch Männer aus Astrid Ackermanns Familie in diesem Kloster, zwei Großtanten lebten und wirkten dort als Haushälterinnen, und auch ihre eigene Mutter wurde mit sechs Jahren ins Kloster zum Arbeiten abkommandiert. Als „Klomädchen“ hockte sie im Keller, hackte Holz für die Ordensbrüder.
„Das war damals so“, sagt Astrid Ackermann. Ihre Großeltern waren Bauern, die Kinder mussten früh Geld verdienen. Dabei war die Mutter die schlaueste in der Klasse, aber eine weiterführende Schule kam nicht infrage.“
Irgendwann verließ die Mutter das Kloster, um „in Stellung“ zu gehen. Sie lernte ihren Mann kennen, und es kamen zwei Töchter. Mit ihnen ging sie zurück auf den Engelberg und schmiss fortan den Klosteralltag, führte den Haushalt, backte 20 Kuchen bei Feierlichkeiten und putzte und bohnerte die Kirche. Es musste Geld verdient werden für eine gute Ausbildung der Töchter: privater Musikunterricht, Orgel- und Klavierspiel – die Mädchen sollten „es mal besser haben“.
„Meine Mutter war unvorstellbar fleißig. Heute sagt sie manchmal: ‚Die haben uns ganz schön ausgenutzt, die Mönche mit den heiligen Händen.‘“
Als die Mädchen dann in die Schule kamen, wurden sie mittags mit dem VW-Bus abgeholt, oder sie kletterten selbst die Stufen hinauf, die sogenannten „Engelsstaffeln“.
Sie strolchten herum, liefen Rollschuhe, niemand kontrollierte sie, es gab Schafe, Hühner und Hunde. „Es war herrlich dort oben.“
Aber vor allem waren da die Mönche, liebenswürdige, alte Männer, die sich an der Unbeschwertheit der Kinder erfreuten und wie Großväter geachtet und geliebt wurden. „Wir haben Plätzchen gebacken, Fasching gefeiert, da hockten die Ordensbrüder mit Pilzhüten herum, und es gab Wurst- und Käsebrote, mhh.“
Astrid Ackermanns Gesicht leuchtet, wenn sie mit großer Geste und ansteckender Heiterkeit von Pater Konrad und Pater Reiner schwärmt, von Pater Leander und von Pater Max, der jeden Abend ein Würstchen aß. Dadurch, dass Kinder um sie herum waren, verloren die Mönche so manche Schrulligkeit.
„Pater Konrad hat geraucht und gesoffen. Samstags waren wir bei ihm in seiner verqualmten Bude, haben Schallplatten gehört und ferngesehen, dann kam meine Mutter angelaufen und rief: ‚Ihr müsst doch mal an die frische Luft.‘ Haben wir aber nicht gemacht.“
Pater Konrad machte Alkoholentzüge, und es waren wohl die Kinder, die ihn vor dem Suff retteten, jedenfalls wurde er 85 Jahre alt.
Auf dem Engelberg ging es immer nur um das Miteinander, das wird Astrid Ackermann nicht müde zu betonen. Sechs Ordensbrüder, Klostermitarbeiter, die Kinder, und manchmal auch ihr Vater, ein Polizist – alle aßen sie gemeinsam im Refektorium zu Mittag. Solange, bis die Mädchen in die Schule kamen – es wurde um Punkt zwölf gegessen.
„Meine Schwester und ich haben die Mönche bedient, es gab immer Suppe und Nachtisch. Noch heute kann ich mich an den Geruch von Brot erinnern, das nicht frisch gegessen werden sollte.“
Beinahe jede Woche wurden in der Klosterkirche Paare getraut, Sylvia und Astrid Ackermann spielten Orgel und sangen fromme Lieder, ihre Neugier aber galt nur den Kleidern der Bräute. Fünf Mark zahlte Pater Konrad jedem Mädchen fürs Singen.
„Wir hatten immer ordentlich Geld damals.“
Ihr Lieblingspater Konrad, von den Mädchen kurz Pi genannt, war im Krieg zu Fuß aus Rußland geflohen, all seine Zehen froren ihm ab. Von ihm weiß Astrid Ackermann unglaubliche Geschichten zu erzählen: Dass er noch zu Lebzeiten seinen Körper verlassen und auch wieder in ihn zurückkehren konnte. Manchmal hätten sie sein Zimmer betreten und gesehen, dass es nur seine Hülle war, die im Sessel saß, am nächsten Tag sei der ganze Mann munter wieder aufgetaucht. „Das haben seine Meditationen ihm ermöglicht.“
Dann erzählt Astrid Ackermann von den Armen, die von den Mönchen aufgenommen wurden und im Kloster lebten: von Hans mit den epileptischen Anfällen, von der zahnlosen Guste aus Schlesien mit ihrem unehelichen Kind, die in ihrer Ecke saß und Äpfel schälte, immer ein Bierkrug hinter dem Vorhang, der ihr zu einem Dauerpegel verhalf. „Einmal fiel sie die Treppe runter, da haben wir gesehen, dass sie keine Unterhose anhatte,“ ruft Astrid Ackermann aus und biegt sich vor Lachen.
Ja, sie könnte wohl ein Buch schreiben über die Jahre im Kloster.
Einmal habe sie Pater Konrad gefragt, wie es denn so sei mit Gott, er habe ihr geantwortet: „Gott ist wie die Sonne, Du kannst Dich entscheiden, ob Du Dich in den Schatten stellen willst oder ins Licht.“ Schon vor vielen Jahren sei er zu dieser Sonne aufgebrochen, dennoch: „Er ist immer da und bewacht uns.“
Als sie dreizehn war, ging Pater Konrad ins Altenheim und die Gemeinschaft begann sich aufzulösen. Der Nachfolgeprior hieß bei den Mädchen bloß „Schweinchen Dick“. Mit ihm begann die Vertreibung aus dem Paradies. Dieser Mensch ließ das religiöse Leben hinter sich und beschäftigte sich mit allem, bloß nicht mit dem klösterlichen Leben. Die Mutter kündigte, und auch der von den Mädchen geliebte Pater Reiner wechselte in ein anderes Koster nach Landshut. „Wir haben ihn sehr vermisst, er war doch immer für uns da. Ein Leben lang haben wir ihn besucht, vor drei Jahren ist er gestorben, und das hat sehr weh getan.“
Er war es auch, der Astrid Ackermann zu ihrem 18. Geburtstag die erste Kamera schenkte, eine Hasselblad.
Nach dem Ende des Klosterlebens bauten die Eltern ein Haus im Ort. Astrid Ackermann schüttelt den Kopf: „Auf einmal hockten wir da als Familie zusammen, das haben wir gar nicht kapiert diese Vater-Mutter-Kind-Idylle. Der Mensch braucht Gemeinschaft.“
Wenn es tatsächlich die Kindheit ist, die einen Menschen am meisten prägt, dann hat diese Kindheit Astrid Ackermann zu einem geradlinigen, feinfühligen und sehr lebendigen Menschen heranreifen lassen. Gemeinsam mit ihrem 14-jährigen Sohn lebt sie in einem Haus der katholischen Kirche in München, getrennt von ihrem Mann, einem Theaterschauspieler. Allein zu leben finde sie absurd, aber so sei es nun einmal.
Die Mißbrauchvorfälle in der Kirche verstören sie zutiefst. „Macht lehne ich in jeder Form ab. Meinen Sohn versuche ich zu einem liebenden, mitfühlenden Menschen zu erziehen, der sich nicht schämt, Fehler zu machen und für diese einzustehen.“
So spricht jemand, der das Liebende und Mitfühlende selbst erfahren hat.
Astrid Ackermann studierte nach der Schule Klavier wie auch ihre ältere Schwester, doch nach ein paar Semestern spürte sie, dass etwas anderes sie mehr anzog: Die Fotografie.
Etwas festhalten können von einem Augenblick, der so flüchtig ist – ein Faszinosum für sie.
Sie wechselte auf die Fotoschule in München in eine handwerkliche Ausbildung.
Der inzwischen in Landshut wirkende Pater Reiner unterstützte sie nach Kräften – nicht nur mit der Hasselblad, sondern als Mutmacher.
Heute teilt sie mit einem Freund ein Studio in München, fotografiert das Ensemble des Bayerischen Sinfonieorchesters und überhaupt viel in der internationalen Musikszene – das Klavier und die Kamera haben wieder zusammengefunden.
Und doch ist Astrid Ackermann noch ein bisschen auf der Suche nach sich: „Die katholische Erziehung führt auch dazu, dass man klein gehalten wird, dass man mit sich hadert. Davon musste ich mich erst befreien.“
Es waren weniger die Mönche, eher der tiefgläubige Vater, der die Mädchen zur Frömmigkeit anhielt, und der heute noch jeden Mittwoch den Rosenkranz betet.
Der letzte Winter hat Astrid Ackermann pandemiebedingt schwer zugesetzt, ihre Sehnsucht nach Gemeinschaft ausgebremst: Zwei Jahre hat Corona sich in das Unterbewusstsein der Menschen eingehämmert, immer noch ist die latente Angst vor dem anderen da. Zweimal hatte das Virus sich bei ihr eingenistet, zweimal hat sie es gut überstanden. 2021 konzipierte sie gemeinsam mit ihrer Schwester Sylvia die Ausstellung „Biotope“, die im heimatlichen Miltenberg (bei Großheubach) in der „Galerie am Tor“ zu sehen war, sowie in vereinzelten Schaufenstern im Ort. 25 Porträts der dort lebenden Menschen sollten aus Fremden Freunde machen. Im nächstes Jahr soll es weitergehen mit einer neuen Ausstellung.
Was ist geblieben von ihrer Erziehung, wie hält sie es heute mit dem Glauben?
„Ich denke, Gott ist in uns. Das mit der Dreifaltigkeit erscheint mir konstruiert.
Ist es wichtig, ob Maria eine Jungfrau war? Es kann sein, klar! Ist es wichtig, dass in der Hostie wirklich der Leib Christi ist? Die Rituale geben uns einen Rahmen, aber wichtiger ist ein Satz: „Liebe deinen Nächsten wie Dich selbst.“ //